4. Boom, boom

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Jun

An der Kreuzung der Congress Street und der North Street explodiert ein Anhänger der roten Bastarde.

Instinktiv ducke ich mich. Der Kerl, an dessen Hüfte der Sprengkörper hing, wird in zwei Stücke zerfetzt.

„Holy fuck!"

Kein schöner Anblick.

Das Zugpferd schlägt aus, wirft seinen Reiter vom Rücken und galoppiert panisch davon, den lädierten Anhänger noch immer an seinem Geschirr befestigt.

Das gibt mir die Sicht auf jemanden frei, der über den Asphalt rollt. Ich erkenne blonde Haare und einen grauen Hoodie unter einer dicken, schwarzen Winterjacke.

Die Erdnussbutter-Bitch.

Schüsse ertönen. Der Kerl, der vom Pferd gefallen ist, hat sich aufgerappelt, sein Jagdgewehr in der Hand und will sie richten, doch sie hechtet zur Seite und sprintet davon.

Männergebrüll ertönt von weiter weg. Der Kerl blickt die Hauptstrasse hinunter.

Die Blauköpfe kommen herangestürmt und eröffnen das Feuer. Sie schiessen auf den roten Bastard. Dieser brüllt sie an und deutet in die Richtung des Mädchens, als wolle er ihnen klarmachen, dass sie sein Ziel sei. Die Blauen hören oder verstehen ihn nicht. Sie ballern weiter, was ihn dazu bewegt, zurückzuschiessen.

Er wehrt sich, bis ein Kopfschuss ihn schliesslich in die Knie sacken lässt.

Licht ausgeknipst.

Für einen Moment wird es still und ich halte automatisch den Atem an, selbst wenn sie mich auf dem Dach des Quincy Market nicht sehen, geschweige denn hören können.

Eigentlich wollte ich von hier oben bloss einer der erneuten Übergaben zwischen den Red Eagles und den Blue Jays beiwohnen. Die finden immer regelmässiger vor dem Government Center statt — aus einem mir noch unerklärlichen Grund.

Dass fast ein Bandenkrieg ausbrechen würde, hätte ich wirklich nicht erwartet. Und fuck, das ist das Letzte, was ich hier in meiner Gegend brauchen kann! So nah an meiner Schwester.

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung unten auf dem Platz wahr. Die Flüchtige hat die Strasse verlassen und drückt sich an die Mauer des kleinen Parfümshops. Sie legt sich auf den Boden und macht sich flach wie ein Pfannkuchen. Ihre Hände sind verbunden.

Wie die es geschafft hat, die Granate am Gurt des roten Bastards zu zünden, will ich mir gar nicht ausmalen. Beschissen gerissenes Ding.

Währenddessen versuchen die Blauköpfe das aufgeschreckte Pferd mit dem Anhänger zu fangen. Das Tier wiehert so laut, dass es jedes noch so andere Geräusch übertönt.

Mein Blick fällt zurück auf die Kleine. Die Blauen haben sie noch nicht entdeckt. Sie ist mittlerweile bis zum Ende des Gebäudes gekrochen. Sie springt auf die Beine, noch immer geduckt und blickt um sich.

Links, rechts und hoch.

Shit!

Ich ziehe den Kopf ein, doch es ist zu spät. Sie hat mich gesehen, da bin ich mir sicher.

Schnell schaue ich wieder und sie starrt noch immer zu mir hoch. Obwohl ich weiss, dass es eine dumme Reaktion ist, kann ich es nicht vermeiden: Ich mache eine wischende Handbewegung und gebe ihr zu verstehen, dass sie sich gefälligst verpissen soll.

Sie steht auf. Ihr Kopf wendet sie von mir ab und ich weiss sofort, was sie im Blick hat.

Faneuil Hall. Die alte Markthalle direkt gegenüber von Q.M.

„Nein", knurre ich leise. „Wehe du verschanzt dich dort!"

Doch genau das scheint die blonde Ratte im Kopf zu haben. Geduckt huscht sie über den Platz und in dem Moment überlege ich es mir ernsthaft, Lärm zu machen, damit die Blue Jays die Köpfe recken.

Aber das würde auch bedeuten, dass sie mich und meine Schwester entdecken könnten.

Das dürfen sie nicht.

Zähneknirschend beobachte ich, wie die Erdnussbutter-Bitch auf den Sims eines der eingebrochenen Fenster springt und hineinkriecht.

Eins ist klar: Ich werde sie von dort verjagen müssen.

X X X

Durch das Dachfenster gelange ich zurück in unseren Unterschlupf auf der zweiten Etage des Quincy Market. Ein lärmiges Chaos empfängt mich.

„BOOM, BOOM!", kreischt Ruby durch die Halle. Sie flattert aufgebracht in ihrem Käfig.

„Schnabel!", will ich sie zum Schweigen bringen.

Sie hört natürlich nicht auf mich, also schnappe ich mir die Wolldecke vom Boden und werfe sie über den Käfig. Darunter protestiert Ruby schon etwas leiser.

„Shhh", sage ich, um sie zu beruhigen.

Ruby hasst das Geräusch von Schusswaffen und Explosionen, allerdings ist das zur normalen Geräuschkulisse dieser Stadt geworden. Selbst Nari schafft es mittlerweile mit dem Knattern entfernter Salven einzuschlafen. Nicht gerade das schönste Schlaflied für ein achtjähriges Kind.

„Jun-oppa!", ruft meine Schwester und kommt auf mich zu, die Zeichnung, an welcher sie soeben noch sass, in einer Hand, einen gelben Stift in der anderen. „Was war das?"

Keinerlei Sorge zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Die Kämpfe der ersten Welle haben sie abgehärtet, ihre Unschuld mit denselben Kratern versetzt, wie sie entlang des Charles Rivers nach der grossen Bombardierung noch vorzufinden sind. Aber bei ihr sind es unsichtbare Narben des Krieges.

Der Gedanke tut mehr weh, als ich will.

Ich gehe in die Knie, lege meine Hände auf ihre Schultern ab und blicke sie ernst an.

„Nari, hör mir zu. Da draussen ist jemand Gefährliches, den ich aufhalten muss. Okay?"

„Okay."

„Versteck dich in deiner Schlafnische. Decke über den Kopf und keine Bewegung, hast du gehört?"

Sie nickt.

„Zähle bis dreihundert." Sie nickt abermals. „Aber leise!", präzisiere ich und strecke den Zeigefinger in die Luft. „Wenn ich dann nicht zurück bin, dann weisst du, was du tun musst."

Nari schluckt schwer. Sie will nicht nicken, denn sie hat Angst vor dieser Möglichkeit — dass ich nie zurückkehren könnte. Wir sind dieses Gedankenspiel schon oft durchgegangen. Sie kennt jeden einzelnen notwendigen Schritt, der danach folgen würde.

Ich helfe ihr unter die Decke und lösche die kleine Gaslaterne neben ihren Zeichnungen. Mein Blick fällt auf ihre Kunstwerke. Ein Stechen durchfährt mich.

Seufzend drehe ich mich um, packe meine Lederjacke und meinen Dolch und jogge zum Hinterausgang.

Zeit für ein Rückspiel.

Dieses Mal werde ich gewinnen. 

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Author's Note:

Ob das wirklich eine gute Idee von Jun ist?

The Green LineWhere stories live. Discover now