19. Lost cause

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Ophelia

Erstmals seit Monaten träume ich wieder.

Dieses Mal ist es kein Albtraum, der mich verfolgt, nein, dieses Mal bist du mit mir da. Du stehst in deinem grauen Hoodie vor mir und grinst mich an. Deine Red Sox Kappe trägst du verkehrt herum auf dem Kopf, da und dort stechen ein paar blonde Strähnen heraus.

„Willst du etwas richtig Cooles sehen?"

Ich nicke. Die Frage hast du mir immer dann gestellt, wenn du mir etwas beibringen wolltest.

In meinem Traum führst du mich zum Hafen. Du setzt dich und lässt die Füsse vom Pier baumeln. Es ist die Stelle, an welcher wir immer sassen, wenn ich dich nach der Uni von der Arbeit abgeholt habe und wir für ein paar Minuten einfach nur die Meeresbrise einatmen wollten.

Unser Lieblingsort.

Ich setze mich neben dich hin. Wir blicken übers Meer, das sich vor uns in die Unendlichkeit erstreckt. Die Sonne glitzert auf der Wasseroberfläche.

Du streckst den Arm aus. Ich blinzle in die Ferne und dann erkenne ich, was du mir zeigen willst.

Zwei Buckelwale tauchen auf. Ihre mächtigen, muskulösen Rücken stossen durchs Wasser, als sie in einer beeindruckenden Lautstärke die Luft aus ihren Lungen pusten, ehe sie mit einem tiefen Atemzug wieder im ewigen Blau verschwinden. Ein Paar, das gemeinsam durch den Ozean zieht. Ein Team, das sich nicht trennen lässt.

„Die sollten nicht hier sein", bemerke ich.

Der Hafen von Boston ist nicht tief genug und Schiffe könnten ihre Finnen verletzen. Das hier ist kein guter Ort für die beiden.

Du drehst dein Gesicht zu mir und lächelst. Es ist, als würde ich in einen Spiegel schauen.

„Dann lass sie gehen", sagst du.

Irgendwas stimmt nicht.

Nicht in meinem Traum, sondern in dem Albtraum, der sich Realität nennt und der sich auf der anderen Seite meiner geschlossenen Lider befindet.

Ich schlage die Augen auf.

Jäh finde ich mich in der schmutzigen, feuchten, nach Metall stinkenden Dunkelheit der U-Bahn wieder. Nari schläft neben mir auf der Bank, aber aus ihrem Rucksack höre ich ein schwaches Krächzen.

Wahrscheinlich ist es das, was mich geweckt hat.

Ich ziehe die Tasche zu mir und befreie Ruby aus dem Karton. Sie schüttelt sich und brabbelt vor sich hin. Eine Aneinanderreihung von menschlichen Begriffen, deren Bedeutung sie niemals kennen wird.

Ich füttere sie mit Haferflocken, gebe ihr Wasser zum Trinken und dann setze ich sie in den Karton zurück, lasse den Deckel jedoch offen.

Der arme Vogel soll die Flügel ein wenig ausstrecken können.

„Schön hier bleiben", murmle ich.

„HIER BLEIBEN", krächzt die Papagaidame mir nach.

Gähnend stehe ich auf und strecke mich.

Jun sollte eigentlich schon längst zurück sein, aber ich bin mit Nari alleine im Zug. Das ist merkwürdig.

Ich steige aus und blicke um mich.

Der Tunnel hinter mir ist in die Jahre gekommen. Er wird auf alten, bröckeligen Säulen gestützt und wirkt wie aus dem letzten Jahrhundert. Ein gängiges Problem, wenn man sich in der ältesten U-Bahn-Linie der USA aufhält und in einem Land lebt, das es für unnötig hielt, Geld in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs zu stecken — gewisse Stellen sehen wirklich so aus, als könnten sie einbrechen.

The Green LineWhere stories live. Discover now