7. Superwoman

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Nari

... zweihundertachtundneunzig, zweihundertneunundneunzig, dreihundert!

Ich spitze die Ohren, halte dabei die Luft an. Kein Mucks dringt von draussen durch die Wolldecke. Jun hat gesagt, dass er rechtzeitig wieder da sein werde. Jedoch ist er es nicht.

Ruby drückt ihren Kopf an meine Brust. Ich habe sie unter meinen Pulli gestopft, obwohl Jun das nicht will, aber ich kann Ruby nicht im Käfig lassen, während ich mich verstecken muss. Sie muss sich auch verstecken.

Sie ist mein Haustier.

Umma hat immer gesagt, dass ich auf sie aufpassen solle. Ich habe sie mir schliesslich gewünscht und sie zum Geburtstag bekommen und weil sie mein Papagei ist, bin auch ich diejenige, die sie füttern und ihren Käfig sauber machen muss.

Ruby ist für mich wie eine kleine Schwester.

„NACHT!", kreischt sie durch meinen Pulli.

Mit der Hand drücke ich sie fester an mich. „Sschhh, Ruby, sschhh." Sie krächzt. „Wir müssen auf Jun-oppa warten", flüstere ich so leise wie eine Maus.

Wir liegen beide unter der Bettdecke, gut versteckt. Die Wolle macht die Luft ganz warm und feucht, was dazu führt, dass ich meinen eigenen Atem riechen kann. Das wird mir zu stickig.

Vorsichtig schiebe ich die Decke von mir, strecke den Kopf in die Luft und horche nochmals.

Es ist still in der Halle.

Jun müsste eigentlich schon längst zurück sein. Er hat gesagt, ich solle bis dreihundert zählen.

Das habe ich – schon zwei Mal!

Ich will nicht wegrennen müssen.

Alleine durch die Strassen zu gehen macht mir Angst. Als ich kleiner war, habe ich Umma einmal in einem Supermarkt verloren. Es waren zu viele Gänge und alles sah gleich aus. Ich hatte solche Angst, dass ich mir fast in die Hose gepinkelt habe, dabei war das nur ein Supermarkt und nicht eine ganze Stadt.

„Metropole", flüstere ich. „Anderes Wort für Weltstadt oder Hauptstadt."

Der Rucksack für den Notfall liegt unter dem Esstisch. Immer griffbereit und nicht weit von meinem Bett. Ich muss nur den Arm ausstrecken, dann habe ich ihn.

„Metropole", wiederhole ich und ziehe den Rucksack zu mir. „M - E - T - R - O - P - O - L - E."

Das Buchstabieren vertreibt die Angst. Ich bin die Beste in meinem Jahrgang und konnte mir Buchstaben schon immer gut merken. Appa will mich zu den landesweiten Wettbewerben schicken ... oder wollte, er wollte mich schicken.

Ich ziehe meine Winterjacke an, die neben mir liegt, zurre sie zu und schwinge den Rucksack über meine Schultern.

Mütze auf, Stiefel an.

Ich bin schnell fertig.

Dann fällt mein Blick auf das riesige Erdnussbutter-Glas, das neben dem Sofa auf dem Boden steht. Das kann ich nicht mitnehmen, weil es in meinem Rucksack keinen Platz dafür hat.

Jun würde nicht wollen, dass ich–

Schwups ist das Glas offen und mein Finger in der Butter.

„Nur ein wenig", verspreche ich Jun, obwohl er mich gar nicht hören oder sehen kann.

Ich schaufle so viel heraus, wie ich kann, und drehe den Deckel wieder zu. Den Finger stecke ich mir in den Mund. Hmmm. Ich liebe Erdnussbutter.

The Green LineWhere stories live. Discover now