17. Achilles heel

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Ophelia

Wir legen kurz vor Kenmore unseren Halt ein und beschliessen, in dem verlassenen Zug, der auf dem Gleis steht, zu übernachten.

Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich die ganze Strecke in einem Tag zurückgelegt, jedoch reicht Naris Kraft nicht dafür aus. Auch Jun ist langsam, aber das ist seinem mentalen Zustand zuzuschreiben.

Als wir in den Zug steigen, verkriecht sich Nari sofort auf eine Bank und schlummert ein. Das viele Gehen hat ihrem Körper schwer zugesetzt.

Jun deckt sie mit der Wolldecke zu und setzt sich mit etwas Abstand neben seine Schwester hin, wirft seine Beine auf die Stühle, überkreuzt sie und lehnt den Kopf seitlich an die Glasscheibe.

Ich selbst platziere mich auf die Bank ihnen direkt gegenüber und ahme Juns Sitzposition nach.

Die Kerze im Windlicht liegt zwischen uns auf dem Gang und wirft merkwürdige Schatten an die Fensterscheiben.

Bequem ist anders, aber immerhin sind wir hier unten vor dem Schnee und dem eisigen Wind geschützt. Und vor den roten Sammlern, in deren Gebiet wir uns befinden.

Jun starrt ins Leere. Viel besser fühlt er sich wahrscheinlich noch nicht. Er ist bleich um die Nase und atmet aus dem Mund, im Versuch, seinen rasenden Puls zu beruhigen. Dazu hat er die Angewohnheit, nervös mit dem Fuss zu wackeln.

Ein deutliches Zeichen seiner Angststörung.

Tunnelphobie – der simple Grund, warum er es nicht geschafft hat, den Weg über die grüne Linie mit seiner Schwester schon viel eher abzuschreiten. Weil er wegen ziemlich allem hier unten Blut schwitzt.

„Morgen durchqueren wir Fenway Park", sage ich, um seine Gedanken auf andere Bahnen zu lenken. „Sie werden nicht mitbekommen, dass wir da sind."

Mein Gegenüber blickt nicht auf. Die Dunkelheit ausserhalb dieses Zugwagons scheint ihn vollkommen in ihren Bann gezogen zu haben.

„Mal sehen", brummt er nur.

„Falls sie uns doch entdecken und du dich nicht traust zu kämpfen, überlass es einfach mir, Memme."

Seine Augen fallen auf mich und teilen mir einen imaginären Schlag aus. Das hat seine Aufmerksamkeit von der gähnenden Schwärze des Tunnels zurück zu mir geholt.

Gut. Ich brauche ihn nämlich hier bei mir und nicht in seiner Angstspirale.

„Was gibt dir das Recht zu glauben, dass ich mich nicht trauen würde?", mault er zurück. „Ich habe über ein Jahr lang mit Nari alleine überlebt. Ist das nicht Beweis genug, dass ich mich durchschlagen kann?"

„Doch, doch, absolut." Ich zucke mit den Schultern. „Obwohl ich vermute, dass du es nicht allein mit Kämpfen und Töten geschafft hast."

Die Stille, die auf meine Worte folgt, ist verräterisch.

Jun blinzelt nicht, hält meinem Blick stand.

„Sondern?"

„Durch Abmachungen."

Er kontert nichts zu meinem Verdacht, aber seine Miene wird finster.

Voll ins Schwarze getroffen.

Bevor er fragen kann, wie ich darauf gekommen bin, liefere ich ihm die Antwort. Wir spielen ja neuerdings mit offenen Karten.

„Das Fahnenseil, mit welchem du mich erwürgen wolltest, war durchgeschnitten. Du hattest kein Messer mehr auf dir, als ich dich in Faneuil Hall durchsucht und hängen lassen habe."

The Green LineWhere stories live. Discover now