16. Arrhythmia

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Nari

Ich glaube, in ihrem früheren Leben war Knox ein Maulwurf.

Sie geht vor uns, während Jun meine Hand hält und wir ihr durch den Tunnel folgen. Jedes Mal, wenn wir uns vor einer der etlichen Abzweigungen befinden, bleibt sie stehen, senkt den Kopf und schliesst die Augen. Ihr Oberkörper schwingt dabei leicht hin und her, als ahme sie eine Bewegung nach.

Ich habe keine Ahnung, was sie da macht, aber wenn sie die Augen wieder öffnet, dann weiss sie, wo lang es geht und wir marschieren weiter.

Bereits drei Stationen liegen hinter uns: Park Street, Boylston und Arlington.

An unseren Füssen springen Schatten vorbei.

Jun meinte vorhin, dass das Ratten seien und dass sie uns in Ruhe lassen würden, aber ich bin mir da nicht sicher. Knox trägt das Essen in ihrem Rucksack. Wenn Ratten das wittern können, werden die dann genauso verzweifelt darum kämpfen wie die Menschen?

Können Ratten überhaupt kämpfen?

Ich will die Frage laut stellen, doch da erreichen wir die vierte Station: Copley.

Der Tunnel öffnet sich und wir erkennen den Bahnsteig mit den Wartebänken an den Wänden. Wir sind hier nicht mehr so tief unter der Erde. Von der Treppe am anderen Ende der Plattform stechen Lichtstrahlen in die Dunkelheit und helfen uns dabei, etwas zu sehen.

Knox bleibt stehen und blickt in alle Richtungen, als traue sie der Ruhe noch nicht ganz. Bei jeder Station hat sie das gemacht, alle Ecken ausgeleuchtet und alle Seitengänge überprüft.

Wir sind mucksmäuschenstill, damit wir diesen Ort nach Lebenszeichen aushorchen können. Schweres Atmen oder das Schlurfen von Schuhen auf dem Boden. Irgendetwas, das auf Menschen hinweisen könnte.

Aber es tropft nur irgendwo von der Decke in eine Pfütze und der Wind pfeift durch die schwarzen Schächte. Ansonsten ist es still.

„Zeit für eine Pause", beschliesst Knox und springt auf den Steig.

Sie streckt Jun ihre Hand hin und hievt ihn hoch. Dasselbe tut sie mit mir.

Wir setzen uns auf eine Bank und ich verfrachte mich auf den Schoss meines Bruders, platziere meinen Rucksack, in welchem Ruby in ihrer Kartonbox mit Atemlöchern steckt, auf meine Knie.

Jun ist unruhig.

Seine Angst vor Tunneln und engen Räumen hat er seit er klein ist. Seit er einmal mit Mom in der U-Bahn steckengeblieben ist und sie stundenlang in der Dunkelheit sitzen mussten.

Das war, bevor ich auf die Welt kam.

Ich kuschle mich an ihn, um ihm zu zeigen, dass mit mir und Knox an seiner Seite nichts passieren kann. Sein Herz rast dennoch in seiner Brust und seine Haut ist klamm von dem kalten Schweiss, der sich darauf gebildet hat. Diese Angst wird er nie verlieren, denke ich.

Da jagt ein metallisches Krachen durch den Tunnelschacht und lässt uns alle drei zusammenschrecken.

Fast falle ich von Juns Beinen, er hält mich jedoch rechtzeitig und zieht mich näher an seinen Körper. Ruby murrt in ihrem Karton, von diesem Lärm nicht sonderlich begeistert.

Für einen Moment halten wir den Atem an und warten.

Knox blickt zurück in die Richtung, aus welcher wir gekommen sind.

„War bestimmt nur ein rostiges Rohr", meint sie und richtet ihre wachsamen Augen wieder auf uns.

Juns Bein beginnt auf und ab zu wippen. Pausenlos. Dabei geht das Zittern seines Körpers auf mich über. Er atmet deutlich schneller. Das Geräusch hat seine Angst in die Höhe getrieben. Ich klopfe ihm auf die Schulter, um ihn zu beruhigen, aber ich glaube, es hilft nicht wirklich.

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