22. Goddess of revenge

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Ophelia

Das Tor zum Refugium kracht hinter mir zu.

Es ist der Klang des Abschieds. Die Pforte zum Paradies, die sich hinter mir für immer schliesst.

Noah hat es deutlich gemacht: Für mich hat es keinen Platz im Refugium. Nur für Menschen mit einem Sinn für die Gemeinschaft. Menschen, die einen Beitrag zum Wohle aller leisten können und wollen, damit diese kaputte Welt wiederhergestellt werden kann.

Ich will nichts mehr aufbauen. Das hat Noah erkannt.

Die Wiederbelebung der Zivilisation überlasse ich den Illusionisten, den Gutmenschen, den Träumern, den Optimisten. Jenen, die denken, wir könnten das, was wir einander angetan haben, irgendwann vergessen.

Es gibt Dinge, die lassen sich nicht ungeschehen machen und die lassen sich gewiss nicht verzeihen.

Ich kann nicht die Augen vor dem verschliessen, was aus mir geworden ist. Sams Tod, die Roten und die Blauen, der eisige Winter, die Schonungslosigkeit des Überlebens. Es hat mich zu einem Tier gemacht — einem Monster, das den Weg zurück in die Menschlichkeit nicht mehr finden will. Ich kann es nicht.

Aber was ich kann, ist dieses Monster ein letztes Mal aus mir herauszuholen.

Für etwas Gutes.

Für Jun und seine Schwester.

Ich spanne die Hand um den Riemen meines Rucksacks an und lasse die Schultern kreisen.

„Was wirst du uns hierfür geben?", hat Noah mich im Waffenarsenal gefragt.

„Eine bessere Welt", war meine Antwort.

Eine Welt ohne Red Eagles.

Ein Versprechen.

Noah hat bloss mit den Schultern gezuckt. „Nimm dir, was du tragen kannst."

Dann war er gegangen.

Ich beginne in einem gleichmässigen Tempo zu joggen, damit mir nicht sofort die Puste ausgeht. In meinem Rucksack klirrt es leise. Es schneit, aber das wird mich nicht hindern.

Dein Hoodie hält mich warm, Sam.

Du bist wie immer bei mir. Ich stelle mir vor, wie du neben mir läufst. Wir rennen gemeinsam unserer Aufgabe entgegen. Dem einzigen und letzten Sinn meiner Existenz auf der Erde.

Diesen Bruder werde ich retten.

Nari wird Jun nicht verlieren.

X X X

Die Scheinwerfermasten von Fenway Park strecken sich aus dem Häusermeer in die Höhe. Das typische Grün der Aussenfassade blättert allmählich ab. Wenn ich ganz still bin, dann kann ich das Jubeln und wirre Treiben der Fans hören, als spukten ihre Geister noch hier herum.

Ich bleibe an der Kreuzung der Brookline Avenue und der Lansdowne stehen.

Zwei Wachen befinden sich beim Gate E, die Langwaffen beidhändig am Körper herangezogen und eingewinkelt.

Ich beobachte sie eine Weile lang. Es muss eine Ewigkeit her sein, seit sie das letzte Mal tatsächlich angegriffen wurden.

Ich hoffe, dass sie aus der Übung sind.

Das Buschmesser stecke ich in meinen Ärmel. Die Kapuze meines Hoodies werfe ich mir über die Haare.

Sie sollen mich ja nicht gleich erkennen.

Mit zielstrebigen Schritten und als hätte ich nichts zu verstecken, gehe ich auf den Eingang E zu. Es ist absurd, wie Menschen überlistet werden können. Alles, was es braucht, ist ein selbstbewusstes Auftreten. Als wäre all das hier gewollt. Als wäre nichts faul.

The Green LineWhere stories live. Discover now