5. Memories kill

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Ophelia

Der Souvenir-Shop der alten Markthalle wurde geplündert.

Du hättest wahrscheinlich gelacht.

Nicht humorvoll, sondern voller Bitterkeit, denn du hättest es gesehen — die Menschlichkeit hinter der Tat. Du hättest erkannt, dass es ganz zu Beginn gewesen sein musste, als noch niemand realisierte, wie schlimm es enden würde.

Dass wir um die erschöpften Ressourcen dieser Erde kämpfen würden — ganze Nationen gegeneinander —, bis nichts mehr übrig blieb, worum es sich zu kämpfen lohnte. Bis die Mehrheit dem Hunger verkam und es sowas wie eine Menschheit nicht mehr gab.

Etwas blitzt im grauen Licht auf.

Ein Schlüsselanhänger, der einsam an einem Haken hängt. Ich halte inne. Es ist das Abbild eines Hummers.

Schon wieder schwemmt eine Erinnerung meine Gedanken, wie so oft die letzten Wochen.

Es war am Tag vor Thanksgiving, als du voller Stolz Lobster rolls kochen wolltest und uns dieses hässliche Tier aufgetischt hast. Du hast mich dabei beobachtet, wie ich den Hummer heruntergewürgt habe, weil du wusstest, dass ich Schalentiere hasse.

Ich habe ihn dennoch gegessen, nur, damit die Stube sich mit dem Klang deines Lachens füllte. Nur dafür habe ich es getan.

Dein Lachen.

Es war Licht. Es war Sauerstoff. Für Mom und Dad. Und für mich.

Ich schnaube auf. Vielleicht verstehe ich jene Menschen doch ein wenig, die den Shop geplündert haben. An Gegenständen — selbst an den nutzlosesten — hängen Erinnerungen und es sind die Erinnerungen, die uns am Leben halten.

Ich lasse den Anhänger am Haken baumeln und dringe weiter in die Mitte von Faneuil Hall vor.

Die Rufe der blauen Sammler dringen von draussen durch die Backsteinmauern. Besser ich verziehe mich in eine dunkle Ecke, bis sie sich verpisst haben.

Nur gibt es ein klitzekleines Problem.

Ich erkenne es, wenn ich mich im Territorium eines anderen Streuners befinde. Die Esswaren des Shops wurden leergefegt, jede Schublade, jeder Schrank, jede Box wurde geöffnet, entleert und offen gelassen, als wollte jemand deutlich machen, dass es hier nichts mehr zu holen gäbe.

Ein Streuner, der nicht will, dass man hier bleibt. Aber wie lange ich bleibe und wann ich gehe — das bestimme alleine ich.

Meine Handgelenke protestieren, als ich die Arme nach einem I-love-Boston T-Shirt ausstrecken möchte. Der Schmerz ist spitz und kurz. Ich muss einen Weg finden, meine Hände zu befreien.

Mein Blick grast die staubigen Gänge und Regale ab und erst, als ich den ganzen unteren Stock durchforstet habe, wage ich mich die grosse Treppe hinauf.

Zur Great Hall.

Die Halle, in welcher die Immigranten dieses Landes der Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republik, für welche sie stand, ihre ewige Treue geschworen haben. Für eine Nation unter Gott unteilbar mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.

Zur Hölle mit Freiheit und Gerechtigkeit.

Gott hat zugeschaut, während wir uns die Freiheit nahmen, unseren Nachbarn den Kopf einzuschlagen. Um einen Tag weniger zu hungern, um wärmer zu schlafen, um länger zu leben — aus welchen Gründen auch immer.

Menschen töten auch für nichts, wenn sie müssen und finden immer eine Rechtfertigung.

Wir machen uns eben die Welt, wie sie uns gefällt.

The Green LineWhere stories live. Discover now