2. Kapitel - Wenn Legenden wenden

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"Es gibt eine Legende, Lili, die schon meine Großmutter mir einst erzählt hat: Über ein Taxi, das dich nicht dorthin bringt, wo du hinwillst, sondern wohin du musst. Würdest du einsteigen, wenn das Schicksal dir die Tür öffnet?"

Jolie rannte. Eine längst verdrängte Erinnerung kam ihr in den Kopf und sie schob sie von sich weg, weil es unmöglich war. Es war ihr längst egal, ob sie den kürzesten Weg nahm, sie wollte einfach nur weg.

Ihr wurde übel, als sie um die Ecken bog und das Taxi erneut dort stand. Es wartete. Der Teppich war trotz des Regens trocken und dieses Mal stand etwas anderes drauf: Erinnere dich.

Sie kniff sich so fest in den Arm, dass die Abdrücke noch Minuten später wehtaten.

Mit zitternden Fingern fischte Jolie ihr Smartphone aus der Tasche und wählte Maras Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, dann brach der Anruf ab. Jolie hämmerte förmlich auf ihr Handy, doch es reagierte nicht mehr.

Im Augenwinkel sah sie, wie der Teppich erneut länger wurde und die Ecken sich anhoben. Er kam auf sie zu. Auch wenn sie ihrer Fantasie vor Jahren abgeschworen hatte, ergänzte ihr Kopf das Bild wie von selbst: Der lange rote Teppich, wie eine zischende Zunge. Das Auto mit der gefährlich geöffneten Tür - ein Maul, bereit, sie zu verschlingen.

Schneller als sie denken oder das Bild verfluchen konnte, war der Teppich bei ihr, zischte einmal um sie herum und zog sie ins Taxi.

Jolie kreischte, als hinge ihr Leben davon ab. Ihr Handy rutschte aus ihrer Hand, doch sie hörte den Aufprall nicht mehr, denn die Tür knallte hinter ihr zu. Plötzlich war es dunkel und sie trat um sich, schüttelte den Teppich ab.

Dann konnte sie sich wieder bewegen. Jolie wich zurück und stieß mit dem Rücken unsanft gegen das Innere der Tür. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Teppich, der auf dem anderen Sitz saß und sie entschuldigend ansah.

Das. War. Absurd.

"Weg mit dir!" Sie trat den letzten Zipfel von sich und zog am Türgriff - doch die Tür ging nicht auf. Jolie rüttelte daran. Der Teppich schüttelte seine Fransen wie ein Verneinen, dass sie hier nicht rauskam.

Erst als Jolie den verzweifelten Blick vom Griff abwandte, sah sie etwas, was sie noch mehr an ihrem Verstand zweifeln ließ.

Sie standen längst nicht mehr an der Kreuzung.

Sie fuhren - und zwar nicht mehr auf der Straße.

Jolie schrie, sodass der Teppich sich im Fußraum verkroch.

Sie klammerte sich am Griff fest, eh der einzige logische Teil in ihr, der noch arbeitete, sie an das Anschnallen erinnerte. Sie hatte vergessen, wie sie atmete, aber ihre Finger fanden trotzdem den Gurt und sie klackte die Schnalle gerade rechtzeitig ein, als das Taxi das holpernde Ufer verließ und direkt über die Elbe zischte.

Einen Augenblick fühlte sie sich schwerelos. Der Fluss unter ihr glitzerte im schwachen Tageslicht, getrübt durch die Regenwolken. Doch sie stürzten nicht ab. Das Taxi zischte durch die Luft wie eine blaue, schimmernde Rakete, dann öffnete sich im Himmel ein blaues Loch. Eh sie realisieren konnte, was geschah, zischten sie dadurch und die ganze Welt kippte aus den Angeln.

-★-★-★-

Jolie hatte die Augen so fest zusammengekniffen, dass sie glaubte, sie müsste wirklich erwachen, sobald sie sie aufschlug. Sie würde aus ihrem Bett hochschrecken und Mara kopfschüttelnd von der Absurdität erzählen, von der sie tatsächlich geglaubt hatte, sie sei echt.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now