5. Kapitel - Wie ein Tropfen im Ozean

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"Die besten Menschen sind die, die erwachsen werden und im Herzen Kinder bleiben. Sie haben das Leben wahrhaftig verstanden."

Ihre Oma hatte ihr einst Geschichten erzählt, in denen pure Fantasie gelebt hatte. Jolie hatte sie beinahe vergessen, doch hier fühlte sie sich wieder mit ihr verbunden.

Gemeinsam flogen sie zwischen hunderten Städten hindurch. Keine glich der anderen: Einige waren groß, andere klein. Einige bunt, andere abstrakt. Einige flogen, andere liefen auf Stelzenbeinen. Jede war fantastisch für sich.

Und dann gab es die prächtigen Felsen zwischendurch. Jolie hatte geglaubt, dass die Traum-Baum-Manufaktur beeindruckend war - doch es war nichts im Vergleich zu den anderen.

"Das sind die Tagtraum-Fabrik und die Nachttraum-Fabrik", erklärte Jack. Sie umrundeten ein zweigeteiltes Gebäude - eine Hälfte leuchtete so hell gelb, dass sie kaum hinsehen konnte, die andere war tiefblau und mit funkelnden Sternen bedeckt. Das Gebäude sah aus wie ein Pilz und bewegte sich. "Hier werden Millionen Päckchen gepackt. Siehst du die Elfen? Sie verteilen sie, für jeden Tag ein Päckchen in jede Stadt."

Jolie beobachtete fasziniert die Elfen, die wie tanzende Blumen durch die Luft schwirrten. "Was ist in den Päckchen?"

"Blütenstaub. Die Nacht hilft beim Verarbeiten der Geschehnisse und entführt in spannende Abenteuer. Am Morgen gibt es ein Tag-Päckchen, das dich in Form von Lebensvisionen und groß geträumten Zielen verzaubert - damit du einen Grund hast aufzustehen und deine Träume wahr zu machen, statt im Reich der Nachtträume zu bleiben."

Die Tagtraum- und Nachttraum-Fabrik zog sich zusammen und streckte sich wie eine Konfettikanone, wobei sie hunderte kleine Kullern nach oben in die Luft spieh. Diese breiteten kleine Pusteblumen-Fallschirme aus, um langsam durch die Luft zu trudeln, bis die Elfen sie fingen. Sie flogen mit Tüchern umher, erwischten drei, sieben oder zehn Kullern auf einmal und knoteten sie zusammen.

"Die sind aber nicht gleich groß", stellte Jolie fest.

"Ja." Jack zuckte mit den Schultern. "Die Elfen sind unordentlich. Das sorgt für Tage, wo du keine Lust zum Aufstehen hast, oder, wenn du ein übertrieben großes Päckchen erwischst, dass du die ganze Nacht verrückt träumst oder den Tag über verrückte Ideen bekommst - wirklich verrückte. So etwas wie auf den Mond zu fliegen, das höchste Gebäude der Welt zu bauen oder eine Blitz-Speicher-Maschine zu erfinden."

"Moment, es gibt eine Blitz-Speicher-Maschine?"

"Noch nicht … Vielleicht bald."

"Woher weißt du das?", fragte Jolie.

"Sagen wir es so: Da du mich in den letzten Jahren nicht gebraucht hast, hatten Teppich und ich viel Zeit, die anderen Städte zu besuchen."

"Genau. Das war spannender als die Zeit mit dir damals!", rief der Teppich mit beleidigtem Unterton. Dann ließ er die Fransen hängen. "Manchmal."

Jolie hätte ihn am liebsten umarmt, doch dann würden sie alle abstürzen - egal ob, wann und wie die Naturgesetze hier galten.

Sie flogen weiter.

"Das da vorne ist die Kirmes", sagte Jack und deutete auf den nächsten Felsen zwischen einer Herde bunt gefleckter Jaguar-Städte. "Dort sind das Gedankenkarussell und die Achterbahn der Gefühle."

"Die kenne ich", gab Jolie lachend zu.
Jack grinste. "Teppich, sei so lieb und steuere drüber."

"Nein, nicht über die Achterbaaaaaaahh!"

Der Teppich hob seine Fransen wie Hände in die Höhe und Jack lachte die ganze Zeit, während sie einem grünen Wagen steil nach unten folgten und Jolie sich an ihn krallte. Ihr Schrei verwandelte sich in ein fröhliches Jubeln und sie flogen einen Looping, bei dem sie nicht das Gefühl hatte, jemals fallen zu können.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now