3. Kapitel - Stadt der wandernden Träume

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"Fantasie hat keine Grenzen, Lili. Du kannst alles sein, was du willst. Solange du dort bist, ist es real. Also hab Spaß, eh dich jemand zurück in die Pflichten des realen Lebens ruft."


Es gab zwei Möglichkeiten. Nummer eins: Sie war tot - gekidnappt, Unfall in der Elbe und im Himmel oder in der Hölle gelandet (sicher war sie sich nicht). Nummer zwei: Sie war spätestens nach dem Sturz aus dem Taxi gestorben.

Jolie schlug die Augen auf. Sie blickte in den Himmel, vor dem bunte Wolken schwebten. Es war, als hätte jemand einen Regenbogen in einen Mixer gepackt, ihn anschließend gegurgelt und in den Himmel gespuckt.

Stöhnend richtete sie sich auf und zählte bis zehn. Die Zahlen beruhigten sie.

Dann fiel ihr auf, wo sie war.

"Was bitte soll das sein?" Sie rappelte sich auf. Der Boden wackelte wie Wackelpudding.

Jolie sah sich um und ihr Mund klappte auf. Von hier sah sie die unzähligen Städte besser. Ein gigantischer Wal schwebte an ihr vorbei - durch die Luft. Auf seinem Rücken trug er eine Metropole aus skurrilen Gebäuden, die nicht existieren konnten. Der bunte Palast zum Beispiel, dessen Dach in Schnörkeln nach außen lief und sich mit den umstehenden Häusern zu einem surrealistischen Konstrukt verband, müsste nach aller Logik zusammenbrechen. Ein Wasserfall lief von unten nach oben (unmöglich!) und farbige Lichter - Feen, wie sie bei genauerem Hinsehen erkannte - schwebten kichernd umher. Der Wal schlug mit seiner Flosse und gab einen dröhnend freundlichen Ton von sich. Dann kippte er zur Seite, beschrieb einen Bogen und flog davon.

Der Boden unter Jolie wackelte. Sie suchte Halt an einer Fichte, deren Nadeln jedoch aus Pusteblumen bestand. Sie stoben auseinander, als sie ihre Füße aus dem Wackelpudding-Boden befreite und auf den stabilen Boden sprang. Trotzdem schwankte der Boden weiter und Jolie erkannte, dass sich die ganze Stadt bewegte - weil sie ebenfalls auf einem Tierrücken war.

Ein Büffel mit zotteligem Fell trottete in einer Herde aus wandernden Träumen durch die Gegend. Sie alle waren riesig genug, um je eine eigene Stadt auf sich zu tragen. Jolie fühlte sich winzig, als hätte jemand ihre Umwelt mehrfach ins Quadrat gesetzt und entsprechend vergrößert.

Ihr Mund stand vor Staunen offen. Jede Stadt der Büffelherde war anders. Es gab Paläste, hunderttausend bunte Häuser, riesige Rutschen und Wirbel und Türme. Dort lebten Tiere, die einem Fantasy-Film entsprungen sein mussten. Auf der Stadt neben ihr grasten Einhörner, daneben flogen Jaguar mit Engelsflügeln durch die Luft. Ein Dinosaurier kreischte hoch über ihrem Kopf und steuerte den Büffel hinter ihr an, der von Tropenwäldern überwuchert war.

Plötzlich hob sich ein Stück des Bodens an und flog mit Jolie nach oben. Sie hielt sich irritiert fest, als sie über die Stadt und ein langes Drahtseil schwebten. Sobald sich die Möglichkeit ergab, sprang sie ab und landete auf einem quietschlila Häuschen. Von hier hatte sie direkten Blick auf eine Bühne. Der Scheinwerfer ging an und ein kleiner Junge trat hervor. Er fuhr mit den Fingern über seine E-Gitarre und die gespannten Drahtseile rund um die Stadt erzitterten. Der Ton schallte lauter durch die Stadt als möglich sein sollte.

Sofort strömten kleine Leuchtebällchen aus allen Türen und jubelten ihm zu. Die Geräuschkulisse schwoll mit jedem Ton der Melodie an. Ein Feuerwerk zerbarst über den jubelnden Fans.

Es war das beeindruckendste und absurdeste, was Jolie in ihrem Leben gesehen hatte - und es brachte Erinnerungen an ihre eigene Kindheit zurück.

"Miles!", dröhnte plötzlich eine Stimme über die Stadt und der Büffel zuckte zusammen. Sofort verstummte die Musik und Jolie entdeckte hinter der Bühne eine Leinwand. Sie streckte sich. Dort war derselbe Junge zu sehen, der aus seinen Träumereien schreckte und seinen Stift fallen ließ.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now