12. Kapitel - Folge der Blume

99 27 72
                                    

"Wenn nichts mehr bleibt, bleibt nur die Hoffnung. Gib sie niemals auf, Lili, hörst du? Niemals."

Jolie hatte geglaubt, dass nur der Ozean des Vergessens eine so tiefe Leere mit sich brachte, dass sie nicht darauf vorbereitet war, als der Schmerz sie jetzt traf und ihr auch die restliche Luft raubte.

Bis eine leise Stimme den Schmerz verblassen ließ. "Hier."

Sie wirbelte herum. Der Teppich lugte zitternd hinter einem Herbarianer hervor und hatte ihr Herbarium fest umschlungen.

Er lebte - doch ein Herbarianer hielt ihn fest.

"Oh, Teppich!" Sie eilte auf ihn zu, doch ein weiterer trat ihr in den Weg. In der Hand hielt er das Herbarium, mit dem sie ihr Lager vernichtet hatte. Seine Kapuze war heruntergerutscht und er trug das Gesicht ihres wütenden Kunstlehrers aus der zehnten Klasse, als sie sich geweigert hatte, ein surrealistisches Bild zu malen und stattdessen Formeln umgestellt hatte.

Der Herbarianer zitterte vor Wut. "Du!", presste er hervor. "Was hast du getan?"

Jolie wich zurück. "So hätte mein Plan nicht ausarten sollen."

"Wo ist unser Häuptling?", fragte ein anderer.

Jolie schloss die Augen. "Im Herbarium."

"In dem Herbarium?" Er deutete auf das Buch.

"Nein, in einem Herbarium, dass von diesem Herbarium eingesaugt wurde." Sie musste nicht einmal die Augen öffnen, um zu spüren, dass die Herbarianer sie umzingelt hatten und näher kamen. "Genauso wie alle anderen leeren Bücher, die Regale und die Nester", zählte sie ergeben auf.

Stille. Dann: "Die Nester? Hat es auch Buntglasgeier erwischt?"

Das ganze Lager war weg - und ihr größtes Problem war, ob ein paar Geier von hunderten fehlte? Jolie wollte 'ja' sagen, doch das war nicht nötig. Denn ein Schrei sorgte dafür, dass sie die Augen wieder öffnete. Das alles verschlingende Herbarium glühte leuchtend rot, wie ein Leuchtfeuer, das Schlimmes ankündigte.

"Es hat sie erwischt!", rief einer. Alle wichen zurück, außer dem Kunstlehrer-Herbarianer, der das Buch hielt. Hektisch sah er sich um, doch alle anderen wichen nur noch weiter zurück.

"Wirf es in den Ozean!", schrie jemand.

"Verrückt? Sie hat unseren Häuptling darin eingesperrt!"

"Dann hol ihn raus!"

"Und wenn es vorher explodiert?"

Der Teppich lugte hinter einem Herbarianer hervor. "Warum sollte es explodieren?"

Der Kunstlehrer-Herbarianer zitterte. "Weil es Träume fängt und presst. Die Buntglasgeier bestehen bereits aus gepressten Träumen. Doppelter Druck erhöht die Spannung und dann explodiert es - und lässt den Wirbel frei, der alles verschlingen würde. Wie damals …"

Das Buch glühte heller. Es war eine tickende Zeitbombe.

"Aber unser Häuptling!", verzweifelte einer.

Ein plötzlicher Wandel durchlief den Kunstlehrer-Herbarianer. "Bringt es zum Ozean und betet mit mir, dass ich schnell genug bin." Das Vergissmeinnicht auf dem Umschlag glühte, doch er packte einen Wurzelstrang und zog ihn wie einen Faden hervor. "Folge der Blume." Damit stürzte er sich waghalsig kopfüber in das Herbarium, wurde immer winziger und tauchte durch den Buchdeckel ein. Das Buch fiel zu Boden.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now