10. Kapitel - Der Hof der ausgeträumten Träume

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"Oma, schau Mal! Wenn ich 'Leben' rückwärts lese, entsteht 'Nebel'. Gehören die Wörter zusammen? Es ist, als wären sie miteinander verbunden."

"Was tun wir? Was tun wir?", rief der Teppich verzweifelt. Die drei Herbarianer und ein Dutzend Buntglasgeier hatten sie im Nu umzingelt.

Jolie hob eines ihrer Bücher kampfbereit vor sich. Als ein Buntglasgeier sich auf sie stürzte, schlug sie ihn davon - Glas knackte, doch er kehrte zurück. Auch die Herbarianer rückten näher.

Es waren zu viele. Teppich kreischte und Jolie wirbelte herum. Eine Gestalt hatte ihn erwischt und hielt ihn an den Fransen fest. Neben ihm ein leeres Herbarium, eine stumme Warnung.

Jolie hob die Hände. Sie konnte nicht noch einen Freund verlieren.

"Wir gehen mit ihnen", flüsterte sie ergeben. Einen anderen Plan hatte sie nicht. Jeder Herbarianer und Geier war eine Variable, die sich unvorhersehbar verhalten und den Ausgang der Situation dramatisch verändern konnte - der Moment war eine Gleichung mit zu vielen unterschiedlichen Variablen, die sie nicht gekonnt auflösen konnte.

Sie konnte das Risiko nicht eingehen.

Die Herbarianer führten sie wie Gefangene durch das Ödland ab. Keiner redete, doch die Totenstille fühlte sich dröhnend laut an.

Nervös sah Jolie sich um. Sie wusste nicht, wo sie entlanggingen, da der Nebel allumfassend war. Noch konnte sie nichts tun. Selbstverständlich hatte sie einen Plan - als würde sie irgendwo ohne hingehen. Doch gerade konnte sie ihn nicht umsetzen.

Als der Teppich bibbernd zu ihr sah, tippte sie wortlos auf das Herbarium.

Er bemerkte es. "Ich weiß, du willst wissen, wie wir Jack befreien können", flüsterte er. "Aber -"

Jolie hob das Buch höher, damit er die Blume besser sah. Es war nicht das Herbarium mit dem vertrockneten Vergissmeinnicht, wo ihre Fantasie eingesperrt war, sondern das mit den frischen Knospen. Das Buch, was sie vom Ufer mitgenommen hatte.

"Oh, das andere Herbarium!", verstand der Teppich voller Begeisterung. "Du willst die leeren Seiten nutzen und die Herbarianer einsaugen!"

Einer der Herbarianer drehte sich zu ihnen um. "Das würde ich nicht tun", riet er neutral, als wäre er ein Roboter.

"Ups", murmelte der Teppich niedergeschlagen. Seine Freude darüber, dass er den Plan durchschaut hatte, verpuffte wie ein hauchdünner Nebelschwaden im Wind. Er ließ die Ecken hängen.

Jolie knirschte mit den Zähnen. "Es hätte jetzt sowieso nicht geklappt", versuchte sie ihn aufzubauen. "Es sind zu viele. Das war mein Plan für nachher, sobald ich die Antwort kenne und wir weniger Gegner haben."

Der Teppich schwieg. "Wer weiß, wo sie uns hinbringen", murrte er. "Ob es dann weniger Gegner werden oder ob wir direkt in ihr Lager marschieren."

Jolie stoppte abrupt. Auf die Idee war sie noch nicht gekommen, so angestrengt hatte sie geplant.

"Geh weiter", forderte ein Herbarianer.

"Nein." Jolie drückte beide Bücher mit zitternden Fingern an sich. Sie wusste nicht, ob sie im Zweifel in der Lage war, das halb leere Herbarium schnell genug zu öffnen - schneller als die drei Herbarianer, die alle Bücher trugen. Doch sie würde nicht weitergehen, wenn die Gefahr bestand, dass sie direkt in die Höhle des Löwen marschierten.

"Geh weiter, hier ist es nicht sicher."

Sie rührte sich nicht. "Wohin bringt ihr uns?", verlangte sie zu wissen.

Die Antwort schickte Jolie einen eiskalten Schauer über den Rücken.

"Geh weiter, hier ist es nicht sicher", wiederholte der Herbarianer. "Hier verbergen sich Leichen."

Die Stadt der wandernden TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt