Epilog

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Es gibt einen Ort, an dem alle deine kühnsten Träume Wirklichkeit sind.

Der Hausschlüssel klapperte, als Jolie ihn im Schloss drehte und die Abendsonne Hamburgs hinter sich ließ. Sie schaltete das Licht ein und hörte Schritte.

Ihre Eltern kamen aus der Küche.

"Jolie!", rief ihre Mutter. Ihr Gesicht war schwer zu deuten - eine Mischung aus Überraschung und … Sorge? "Wo warst du?"

Jolie hing noch in Gedanken im Land der Fantasie und am Taxi, welches sie mitsamt ihrem Rucksack vor der Haustür abgesetzt hatte. Mit einer letzten bestärkenden Lichthupe hatte es sie in ihre Realität zurückkehren lassen.

"Ich habe ein paar Kindheitsfreunde getroffen und die Zeit vergessen", sagte sie schließlich die halbe Wahrheit. "Tut mir leid."

Die Miene ihrer Mutter wurde weich. "Na dann", seufzte sie beruhigt. "Mara hat angerufen und gefragt, wo du bist."

Mara? Jolie erinnerte sich, dass sie ihre beste Freundin versucht hatte anzurufen, kurz bevor das Taxi sie gekidnappt hatte. "Ich sage ihr gleich Bescheid", versprach sie.

Ihr Vater lehnte sich gegen die Wand und zog neugierig eine Augenbraue hoch. "Wie lief dein Bewerbungstest?"

Auch wenn es ihr nicht vorkam, als sei er heute gewesen, lächelte Jolie. "Sehr gut!"

Der Gedanke an ihre Zukunft und das Mathematikstudium versetzte sie in altbekannte Vorfreude - sie wusste, dass es der perfekte Platz für sie war. Und das Versprechen an die Herbarianer konnte sie auch erfüllen. Immerhin war ihre Stadt vereint und ihr Leben nun beides.

"Das klingt fabelhaft!", freute sich ihre Mutter. "Du musst uns gleich mehr beim Essen erzählen. Wir haben gewartet und du kommst gerade rechtzeitig. Dein Vater hätte sonst alles alleine aufgegessen."

Jolie lachte, als ihr Vater empört eine Hand auf seinen Bauch legte. "Es ist auch schon spät!"

"Ich bringe nur kurz meine Tasche weg!", sagte Jolie. Bevor sie Treppen hochrannte, drehte sie sich nochmal zu ihren Eltern um und schlang ihre Arme um sie. "Ich habe euch lieb - das wollte ich einfach nur Mal sagen."

Dann rannte sie schnell hoch und blieb in ihrem Zimmer stehen. Es sah aus, wie sie es verlassen hatte, doch Jolie fühlte sich wie ein anderer Mensch. Sie knipste ihre Lampe an und machte sich auf die Suche. Sie wusste mit aller Logik, wo sie es nicht hingelegt hatte, aber wo war es?

Endlich stießen ihre Finger gegen den Einband. Jolie zog ihr Herbarium, welches ihre Oma ihr einst geschenkt hatte, aus dem Regal. Daran hingen so viele schöne Erinnerungen ihrer frühen Kindheit. Sie schlug die erste Seite auf.

Dort klebte ein Vergissmeinnicht. Es war ordentlich gepresst und in der geschwungenen Handschrift ihrer Oma beschriftet. Jolie traten die Tränen in die Augen und sie strich über die Blume, die für die Ewigkeit konserviert wurde.

"Danke, Oma", flüsterte sie. Sie würde nie wieder vergessen.

Jolie ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und tastete nach ihrem Rucksack. Dankbarerweise war ihr Handy drin.

Sie hatte mehrere unabgehakte To-Do's, die sie gerade nicht interessierten. Stattdessen öffnete sie den Chat mit Mara, der sich nach ihrem fehlgeschlagenen Anrufversuch gefüllt hatte.

[15.12 Uhr] Sorry, ich musste meinen Zug noch kriegen. Soll ich dich zurückrufen? :)
[15.43] Jolie???
[16.28] Du legst dein Handy doch sonst nie so lange aus der Hand, weil dort deine Zeitplanung steht. Geh endlich online!
[17.16] Du machst mir Angst
[17.22] Jolie, bitte melde dich!!!

Ihre Finger schwebten über der Tastatur. Alles in bester Ordnung, tippte sie. Du wirst mir niemals glauben, was heute absolut Fantastisches passiert ist!!!

Es dauerte kaum drei Sekunden, da antwortete Mara:

[19.46] Na endlich!!
[19.46] Hat der Busfahrer dich entführt oder was?
[19.47] Ich habe mir schon sonst was gedacht!

Ihre Nachricht brachte Jolie zum Lachen.

Fast. Ich habe den Bus verpasst, tippte sie. Ich erzähle es dir morgen.

Dann steckte sie ihr Handy weg und stand mit dem Herbarium auf. Sie legte es auf den Tisch, um es sich am nächsten Tag in Ruhe anzusehen. Ihr Blick fiel auf ihren Wochenplan, den sie heute früh in Eile halbfertig liegen gelassen hatte. Einige Zeitblöcke im starren Konstrukt waren noch frei.

Mit einem Grinsen schnappte Jolie sich einen Stift und malte einen Zeitblock aus. TRÄUMEN schrieb sie in Großbuchstaben rein.

"Jolie!", rief ihr Vater. "Wenn du nicht kommst, esse ich deine Portion auf!"

"Bin schon unterwegs!", rief sie zurück.

Sie wollte loslaufen, doch etwas piekte sie in die Seite. Irritiert griff Jolie in ihre Tasche - und zog einen Teil der Buntglasscherbe hinaus.

Sie hob sie vor die Augen und betrachtete ihre Hand, die von einem weißen Schimmer umhüllt war. Die Kraft des Lebens. Sie hatte versprochen, Fantasie zu verbreiten.

Und das würde sie tun.

Denn jeder Traum verdiente es, dass ihm Flügel wuchsen.

Die Stadt der wandernden TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt