18. Kapitel - Träumen das Fliegen lehren

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"Sobald du erkennst, was in dir steckt, erkennst du, dass dir niemals etwas gefehlt hat, Lili. Du musst nur hinsehen."

Sofort begann Jolies Kopf unbewusst zu kalkulieren. Masse und Geschwindigkeit, wie bei einem Flugzeug? Das war im Moment nicht möglich. Und wenn sie …

"Jolie! Das ist die Lösung!", unterbrach Jack ihre Gedanken und erinnerte sie daran, dass im Land der Fantasie andere Gesetze galten. "Deiner Stadt müssen Flügel wachsen!"

Der Teppich flatterte aufgeregt um den Höcker. "Fliegen!", freute er sich und wedelte vorbildhaft mit den Fransen. "Drei, zwei, eins, hoch!" Er wartete, doch das Kamel klagte nur und regte sich nicht.

Jolie hatte das Gefühl, als würde die Aufregung wie kribbelnde Ameisen über ihren Körper rennen. Gleichzeitig machte sich in ihr eine riesige Planlosigkeit breit. Sie dachte an die fliegenden Wale, die im Zentrum an ihnen vorbei geschwebt waren. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Sie war die Besitzerin. 

Wie lehrte man einem wandernden Traum das Fliegen, wenn die eigene Fantasie vom Aussterben bedroht war?

Jolie griff in ihre Tasche und zog die Feder des Buntglasgeiers hervor. Sie war gebrochen, doch das störte sie nicht. Lerne hinzusehen. Behutsam hob sie ein Stück vor die Augen und sah ihre Fantasie-Stadt zum ersten Mal, wie sie wirklich war.

Der Anblick überwältigte sie. Jedes Tier, jedes Wesen und jeder Baum trug einen Schimmer um sich herum, den sie vorher nie wahrgenommen hatte. Sie leuchteten unterschiedlich hell, ein Strudel aus weiß, grau und schwarz. Doch die meisten waren trist, als hätte ihre Strahlkraft schon vor Jahren nachgelassen. Fleckenartige Schwärze des Vergessens pulsierte um sie herum. 

Aber Jolie erinnerte sich, immerhin stand sie direkt vor ihnen. Sollten sie nicht mittlerweile leuchten wie ein Leuchtfeuer? 

Vermutlich lag das Problem woanders.

"Was ist es?", wollte Jack neugierig wissen.

Jolie senkte den Blick auf ihre zitternden Hände. Wie erwartet sah sie den schwarzen Schein, der sie umhüllte, wie eine zweite Haut. 

Sie war es, die vergaß und tötete.

Deswegen stand ihr Kamel noch immer an der Schwelle des Todes.

"Die Wahrheit", flüsterte sie. "Ich bin es."  

Jack wirkte, als verstand er die Aussage nicht, während der Teppich nachdenklich seine Ecken neigte. "Du bist es", stimmte er zu. "Natürlich, es ist deine Hand." Planlos hob er eine Franse vor sich und betrachtete sie genau. "Und das bin ich", stellte er das Offensichtliche fest. "Ich weiß bloß nicht, wie uns das hilft."

Trotz der Situation musste sie lachen. "So meinte ich das nicht, Teppich", sagte sie. "Ich meinte, dass ich das Problem bin."

"Warum?", fragte Jack irritiert, und doch sah sie, dass er es bereits wusste.

Sie alle wussten es.

"Ich wollte so sehr erwachsen werden", stellte Jolie fest. "Hör auf zu träumen, haben meine Eltern gesagt. Werde erwachsen, haben sie gesagt. Als Kind dachte ich, der einzige Weg wäre es, alle meine Träume loszulassen, verstehst du?"

Jack nickte niedergeschlagen. "Wir waren dabei."

"Ich habe sogar angefangen, Oma Marthas Geschichten als dämlich zu bezeichnen!", fuhr Jolie fort. "Alles nur, damit meine Eltern zufrieden sind und die anderen Kinder euch und damit mich nicht auslachen. Denn das tat weh. Also habe ich die Entscheidung getroffen, einen Neustart zu machen - Schluss mit der Kindheit und Grundschule und Beginn vom Erwachsensein und Gymnasium. Ich habe angefangen, mein Leben durchzurechnen und zu planen, um das Gefühl zu bekommen, es in der Orientierungslosigkeit des Erwachsenwerdens im Griff zu haben! Ich dachte, dass es das ist, was Erwachsene ausmacht: Sie haben ihr Leben im Griff." Jetzt, wo sie älter war, wusste Jolie, dass das nicht stimmte. Sie schüttelte den Kopf.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now