Kapitel 1 - An Tagen wie diesen

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4. Juli 1901: Als Dame von Welt, die ihr Leben lang Geld besessen und sich in kultivierten Kreisen bewegt hat, ist es schrecklich für mich, mir eingestehen zu müssen, dass ich nicht länger wohlhabend bin. *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.

Die Wolken hingen tief an diesem Morgen, so wie auch an den Tagen zuvor. Fröstelnd zog Annie ihren schon leicht fadenscheinigen Umhang aus feingesponnener Wolle noch ein wenig enger um ihre Schultern und trat ans Fenster. Wollte es denn heute überhaupt nicht hell werden? Nach der Schachtel mit den Zündhölzern in der Tasche ihres schwarzen Rocks tastend, blickte sie hinaus in das eintönige Grau.

Sollte sie jetzt schon die Kerzen anzünden und nicht erst am Abend, wie an jedem vierten Juli?

Leider ließ ihr die Düsternis, die schon seit Tagen von der stehenden Luft über Bay City ausging, keine andere Wahl. Die über dem Städtchen hängende Wolkendecke verstärkte das beklemmende Gefühl nur noch und ließ Annie beim Anblick des sonst so lebhaft funkelnden Sees an einen blindgewordenen Spiegel denken.

So matt wie Blei, war das Erste, das ihr angesichts der für nordamerikanische Hochsommer eher seltenen Schlechtwetterfront mit ungewöhnlich niedrigen Temperaturen in den Sinn kam. Wenn sie den Vorhersagen Glauben schenken durfte, konnte dieser unerwartete Witterungsumschwung noch mehrere Tage andauern. Gott wusste, was damit noch alles einhergehen würde. Lieber nicht daran denken...

Doch genau darin lag die Krux.

Kluge Menschen sorgten rechtzeitig für einen ausreichenden Vorrat an Brennholz. War man jedoch auf Wohlwollen und Gutdünken der Herrin des Hauses angewiesen, sah die Sache schon ganz anders aus; vor allem, wenn die Kosten, für die jeden Monat ein Teil ihrer Ersparnisse dahinging, nur auf den ersten Blick günstig waren. Mit Unbehagen sah Annie sich in dem kleinen Zimmer um, in dem sie zur Miete wohnte, sofern man angesichts der spärlichen Möblierung überhaupt von Wohnen sprechen konnte. Hausen auf beengtem Raum traf es eher. 

Ein Bett, eine Kombination aus Tisch und Stuhl, dazu ein Schrank und eine Kommode mit drei Schubladen, über der ein fleckiger Spiegel hing, waren die einzigen Dinge, die ihr nach den vielen Jahren geblieben waren. Selbst die frischen Blumen vom Feldrand, die sie in einer chinesisch anmutenden Porzellanvase mit starken Gebrauchsspuren halbwegs kunstvoll arrangiert hatte, konnten dieser Tristesse nichts entgegensetzen. Es wunderte sie nicht im mindesten. Denn so wie der Zahn der Zeit an dem einst edlen Material genagt hatte, so zogen sich auch Risse und Sprünge durch ihr Leben.

Zeit, ging es ihr durch den Sinn, macht vor niemandem halt, auch nicht vor dir:  Eine ernüchternde Erkenntnis, die sich nicht zum ersten Mal wie lähmendes Gift in ihre Gedanken schlich.

Unser Leben währt siebzig Jahre, und ihr Gepränge ist Mühsal und Nichtigkeit; denn es ging eilend vorüber, und wir flogen davon?

Welch bittere Ironie, dass sie sich ausgerechnet jetzt wieder des Psalms von vor drei Wochen erinnerte. Denn wenn sie es recht bedachte, hätte sie es schon seit geraumer Zeit kommen sehen können, ja müssen. Nur, dass dies schon so bald der Fall sein würde, das hätte Annie sich trotz all dem Beten und Hoffen nicht träumen lassen.

Bitterkeit hing in der abgestandenen Raumluft wie die Schwaden gekochten Kohls, die von der Suppenküche gegenüber ausgingen. Kratzer und helle Flecken auf den ausgetretenen Dielen, eine halbe Armlänge entfernt, legten Zeugnis davon ab, dass noch vor kurzem ihr Klavier dort gestanden hatte. Doch nun waren andere Zeiten und Schülerinnen immer rarer gesät. Ja früher – da hatte man noch Wert auf ein gewisses Maß an Bildung und Etikette gelegt, während heute... Aber ach, was half alles Jammern und das Schwelgen in vergangenen Tagen, wenn sich im Hier und Jetzt der Magen auf unangenehme Weise bemerkbar machte?

Doch alles, was auf sie wartete, waren Kartoffeln, Kohl und Rüben. Was hätte sie jetzt für ein ordentliches Steak von Jones & Son, dem Schlachter in ihrem Viertel gegeben – heute, an diesem einen Tag im Jahr, den sie stets würdevoll und in stillem Gedenken begangen hatte, ihrem Hochzeitstag. Auch wenn ihr David schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte, so war doch ein schönes, saftiges Steak alles, was sie sich wünschte, und dazu brauchte es kein „rundes Jubiläum".

Siebenunddreißig Jahre waren kein Pappenstiel, und es mutete ihr wie eine Ironie des Schicksals an, dass ausgerechnet der im ganzen Land ausgelassen gefeierte Unabhängigkeitstag mit dem Tag zusammenfiel, an dem ihr geliebter David in einen Hinterhalt geraten und von der Kugel aus der Waffe eines Konföderierten tödlich verwundet worden war.

Doch trauernde Witwe jenseits ihrer sogenannten besten Jahre hin oder her, was ausstehende Rechnungen betraf, verstanden Jones & Son keinen Spaß. Sie waren genauso wenig länger gewillt, ihre Kundschaft anschreiben zu lassen wie Lucille Donaldson, die beste Schneiderin und Modistin am Ort. In diesem Punkt war Ms Donaldson unerbittlich, und so war Annie aus allen Wolken gefallen, als sie die bittere Pille verabreicht bekommen hatte.

Schweren Herzens hatte sie sich daraufhin von der neuen Herbstgarderobe trennen müssen; und das, nachdem die Schneiderin bereits bei ihr Maß genommen hatte.

Adieu, du Welt des schönen Scheins, war alles, was Annie mit Schrecken klar wurde, denn nun hatte sie die Gewissheit, die sie so lange verdrängt hatte: dass nun wirklich und wahrhaftig der von ihr so gefürchtete Tag gekommen war.

Der Tag, der wie kein anderer den Anfang vom Ende symbolisieren sollte.

A/N: Kann man als Dame von Stil und Eleganz noch tiefer sinken? Und geht es irgendwann vielleicht auch wieder bergauf? Nun, wir werden es wohl hoffentlich bald herausfinden, wenn es demnächst heißt „Wenn nicht jetzt, wann dann?"

Silber's GlanzWhere stories live. Discover now