Kapitel 8 - Achtzehn Minuten

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25. Oktober 1901: FRAU GEHT ÜBER DIE NIAGARAFÄLLE IN EINEM FASS. Tausende wohnen dem Versuch bei. Rekordanwärterin rät: „Versuchen Sie es bloß nicht selbst!" *** aus einem Artikel in der New York Times


Mythen rund ums Haar? Alles Humbug

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Mythen rund ums Haar? Alles Humbug. Doch wenn es einen Mythos gab, den sie nun nicht mehr für an den Haaren herbeigezogen hielt, war es der des vorbeiziehenden eigenen Lebens während der entscheidenden Minuten. Aber wenn sie geglaubt hatte, dass dies in Form von bewegten Bildern, ähnlich der vor einigen Jahren um die Welt gegangenen Serienfotografie eines galoppierenden Pferdes, geschehen würde, so sollten sie die kommenden achtzehn Minuten eines Besseren belehren.

Schon in den frühen Morgenstunden hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden, und stündlich wurden es mehr, säumten das Ufer auf der kanadischen Seite der Fälle. Nur dort hatte man einen ungehinderten Blick auf das Spektakel, das man für den späten Nachmittag erwartete. Dichtgedrängt standen die Menschen, in der Hoffnung, den besten Blick auf die Queen of the Mist zu erhaschen. Am größten war die Menschentraube an der schmalsten Stelle des Flusses, an der es jäh nach unten ging, wie Annie zu ihrem Entsetzen feststellen musste. Fast so, als hätte sie das Offensichtliche bis zu diesem Augenblick verdrängt, um aus ihrer mit Nervosität angefüllten Lethargie zu erwachen.

Jetzt bloß nicht in Panik verfallen, versuchte Annie, sich zu sammeln und ihr flatterndes Nervenkostüm unter Kontrolle zu bringen, als sie in Port Day ans Ufer trat, in der stillen Hoffnung, ihre alles verändernde Fahrt ohne großes Aufsehen anzutreten. Doch selbst hier, eine gute Meile oberhalb der kleinen Insel in der Mitte des Flusses, hatten sich Zuschauer eingefunden, um Annies Helfer ausgiebig unter die Lupe zu nehmen.

Ihr Team gebührend zu begrüßen, sah Annie als eine gute Gelegenheit an, den Punkt, an dem ein Zurück nicht mehr möglich sein würde, noch ein wenig hinauszuzögern. Dieser Umstand kam ihr schon paradox vor, denn noch beim Frühstück, das sie kaum hatte anrühren wollen, hatte sie sich gewünscht, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Andererseits aber hatte der nicht enden wollende Austausch von Höflichkeiten mit den beiden Männern aber auch etwas Gutes, denn dieser zeitliche Aufschub machte es ihr möglich, im Geiste noch einmal das durchzuspielen, was unmittelbar vor ihr lag.

Gemeinsam bestieg man das Ruderboot und hielt auf ein kleines Inselchen zu, wo die Queen of the Mist bereits auf sie wartete. Kaum, dass sie dem Boot entstiegen war, legte sie so würdevoll wie möglich Hut und Jacke ab, während die beiden Bootsleute sie vor neugierigen Blicken verbargen, denn beides hätte sie nur eingeschränkt; vor allem aber ihr ausladender Hut. Statt dessen griff sie nach einem zusätzlichen Polster und ihrem Glücksbringer - einem kleinen Kissen in Herzform. Mit weichen Knien kroch sie auf allen Vieren in das Fass hinein und richtete sich darin ein, so wie sie es unzählige Male geübt hatte. Das Anlegen des Harnischs, das Ertasten der Haltegriffe, an denen sich Henry bei der Probefahrt das Köpfchen gestoßen hatte. Inzwischen ging es ihm wieder gut, aber so schnell würde sie ihn in kein Körbchen hinein bekommen.

Die Rückfahrt mit dem Zug würde heiter werden - falls es dazu überhaupt kam.

Das letzte, das sie sah, bevor sich der Deckel schloss und man ihr mit Hilfe einer Fahrradpumpe stark komprimierte Luft zuführte, waren die sich bereits rötlich färbenden Wolken am Spätnachmittagshimmel. Gestern um diese Zeit hast du noch im Salon Kaffee getrunken, dachte sie wehmütig. Dann begann das Beten.

Dass sich achtzehn Minuten wie eingefroren anfühlen und sich dabei gleichzeitig in alle Ewigkeit ausdehnen können, ging es Annie durch den Sinn - das ist der Augenblick, in dem dein Leben im Zeitraffer verläuft

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Dass sich achtzehn Minuten wie eingefroren anfühlen und sich dabei gleichzeitig in alle Ewigkeit ausdehnen können, ging es Annie durch den Sinn - das ist der Augenblick, in dem dein Leben im Zeitraffer verläuft. Doch statt dessen hatte sie plötzlich all die vielen Schüler vor Augen, die sie in den vergangenen Jahren unterrichtet hatte. New York, Mexico City, Chattanooga... Einmal Lehrerin, immer Lehrerin. Einzelne Stationen ihrer bewegten Vergangenheit machten sich selbständig und beschworen unzusammenhängende Momentaufnahmen herauf: ihre Zeit in Chicago, die Tanz- und Benimmschule in San Francisco, ihr kurzer Aufenthalt bei den Verwandten in San Antonio... Schon bald nahm die Queen of the Mist Fahrt auf, und wäre nicht der Amboss unterhalb der Bodenplatte gewesen, der die Queen daran hinderte, sich in den gischtschäumenden Wellen querzulegen, Annie hätte in dem brüllenden Dunkel unten von oben nicht unterscheiden können.

Achtzehn Minuten Zittern in der eisigen Hölle, jede Sekunde eine Qual und die Furcht, dass die Queen und ihre Last vornüber kippten und sich um ihre eigene Achse drehten, doch zweihundert Pfund geballte Stabilität hielten das Fass aufrecht, das die brodelnden Stromschnellen stärker und stärker beutelten. Immer halsbrecherischer steigerte sich die Geschwindigkeit, je näher der Katarakt heranrückte, und mit ihm der Fall ins Bodenlose.

Achtzehn Minuten mit David und ihrem gemeinsamen Kind, dem nur kurze Zeit auf Erden vergönnt gewesen war. Achtzehn Minuten mit dem Brief, der sie von Davids Ableben als Folge der tödlichen Kugel aus dem tückischen Hinterhalt heraus in Kenntnis gesetzt hatte. Achtzehn Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Achtzehn Minuten, die -

Der Ruck, der Annie durch Mark und Bein ging, als die Queen über die Klippe schoss und noch im selben Moment in die Tiefe gerissen wurde, ließ sie endgültig mit der Finsternis verschmelzen.



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