Kapitel 2 - Wenn nicht jetzt, wann dann

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11. Juli 1901: Monatliche Zuwendungen meiner Verwandten... Von den Nachbarn ahnt niemand, wovon ich meinen Lebensunterhalt tatsächlich bestreite. O, wenn sie wüssten, wie sehr ich dieser Almosen überdrüssig bin. *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.

Oberflächlich betrachtet, wäre niemand darauf gekommen, wie kräftezehrend es für Annie inzwischen geworden war, die seit Jahren gewohnte Fassade bei gleichzeitig parallel dazu stetig sinkendem Standard aufrecht zu erhalten

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Oberflächlich betrachtet, wäre niemand darauf gekommen, wie kräftezehrend es für Annie inzwischen geworden war, die seit Jahren gewohnte Fassade bei gleichzeitig parallel dazu stetig sinkendem Standard aufrecht zu erhalten. Man musste schon genauer hinsehen, um aus den unterschiedlichen kleinen Zeichen die richtigen Schlüsse zu ziehen und das Puzzle zusammenzusetzen, wie zum Beispiel die billige Pension, in der die Gäste kamen und gingen – Gäste, denen es nicht auffiel, wie lange sich Annie hier schon zur Miete einquartiert hatte. Oder Annies Garderobe, die schon lange keinen Austausch mehr gesehen hatte, nachdem Madame entschieden hatte, dass es genügen musste, die am stärksten beanspruchten Kleidungsstücke an den unauffälligsten Stellen auszubessern. Hinzu kamen die Mahlzeiten, die schon lange nicht mehr so üppig ausfielen wie in früheren Jahren. Frische Blumen, einmal in der Woche? Wozu den Blumenhändler beehren, wenn es auch ein Spaziergang zu den Feldern tat? Außerdem hatten frische Luft und Bewegung noch niemandem geschadet, und wenn sie so gewissen Zipperlein, die das Alter mit sich brachte, entgegen wirken konnte, warum nicht...

Ach, wem mache ich eigentlich etwas vor, seufzte Annie und befreite die Zeitung aus dem Abfall hinter dem Haus von ein paar verirrten Kartoffelschalen.

Vielleicht waren ja Mr. Jones und die Donaldson wirklich so diskret und hängten schon in ihrem eigenen Interesse das Ende ihrer Geschäftsbeziehung nicht an die große Glocke. Welcher Kunde sah sich schon gerne als Gegenstand von Klatsch und Tratsch, besonders wenn das Lästern vom Inhaber des Ladens seines Vertrauens ausging? Ganz gleich, ob Bäcker, Schlachter oder Schneiderin – da hätten sie sich schön selbst ins eigene Fleisch geschnitten, weil es so nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis ein Kunde nach dem anderen ihnen den Rücken gekehrt hätte. Bay City mochte nicht groß sein, aber auch hier ließ Konkurrenz, die niemals schlief, nicht lange auf sich warten. Andererseits – wer sagte Annie, dass sich ihre Zahlungsmoral nicht vielleicht doch unter anderen Geschäftsleuten längst herumgesprochen hatte? Wollte sie wirklich das Risiko eingehen und sich der Peinlichkeit aussetzen, aus dem entsprechenden Laden unter einem schlecht verhüllten Vorwand hinauskomplimentiert zu werden?

Am Ende der finanziellen Möglichkeiten zu sein, war schon beschämend genug, aber vom Wohlwollen von Verwandten abhängig zu sein, die ihr regelmäßig einen bestimmten Betrag zukommen ließen, wurde Annie mit jedem Monat unerträglicher, zumal sie sich auf die Pünktlichkeit der telegrafischen Überweisungen aus San Antonio auch nicht immer zu hundert Prozent verlassen konnte. Ohnehin hatte sie zunehmend das Gefühl, dass nicht nur Onkel Winston und Tante Elizabeth der einst getroffenen Vereinbarung und den damit verbundenen Pflichten immer widerwilliger nachkamen. Dass die beiden nicht ewig leben würden, war so sicher wie das Amen in der Kirche – und gesetzt den Fall, dass Tag X, der Tag ihres Ablebens käme, was dann?

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