Kapitel 5 - Queen of the Mist

12 4 16
                                    


22. September 1901: Mr. Russell hat mir dazu geraten, mein Vorhaben um einen Monat zu verschieben, und zwar nicht nur aus Pietätgründen. Die Werbewirkung wäre um so vieles größer, wenn ich die Fahrt in der ‚Queen of the Mist' an meinem Geburtstag anträte. An meinem dreiundsechzigsten... *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.


Gut, dass sie nicht all ihre Trümpfe sofort ausgespielt hatte, als sie Mr

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.

Gut, dass sie nicht all ihre Trümpfe sofort ausgespielt hatte, als sie Mr. Saunders ihr in mühevoller Kleinarbeit zusammengebautes Modell aus Karton bereits am Freitag nach ihrem holprig verlaufenen Gespräch gezeigt hatte. Schon danach hatte sie gewusst: Mit einem Exemplar, das nur auf Größe und Gewicht Aufschluss gab, würde sie den Inhaber der Küferei nicht überzeugen können.

Das würde sie ebenso wenig allein mit einer detaillierten Darstellung der Polsterung im Innern, bestehend aus mehreren Kissen und einer Matratze zuwege bringen, oder gar mit dem Spundloch im Deckel des Fasses. Durch dieses gedachte sie, gerade so viel Luft hineinzupumpen, wie für die Dauer der Fahrt vonnöten war, und selbstverständlich auch für den Zeitraum, bis man das Fass mit Bootshaken aus dem Fluss heraus angeln würde. Dank der vielen Schlaufen an der Außenseite wäre das ein Kinderspiel, hatte sie ihm glaubhaft versichert, doch sie musste noch ein wenig höher pokern, da ihr Mr. Saunders offensichtlich Wert auf größtmögliche Sicherheit legte - sehr großen Wert sogar.

Eigentlich war es nicht Annies Art, jemandem das Blaue vom Himmel herunter zu versprechen. Doch in ihrer Lage war sie bereit, jeden Eid abzulegen, wenn dieser ihrer Sache dienlich war.­­ Mr. Saunders musste nicht wissen, dass sie noch immer auf die Antwort des Boxpromoters wartete. Hoffentlich hatten ihre Briefe und telegrafischen Anfragen, für die sie jeden verfügbaren Penny zusammengekratzt hatte, Mr. Russell nicht abgeschreckt.

Umso erleichterter war sie, als Mr. Saunders sich schließlich doch bereit erklärte, den ersehnten Vertrag mit ihr doch noch abzuschließen - auch wenn sie hinterher nicht zu deuten vermochte, was bei ihm tatsächlich den Ausschlag gegeben hatte.

Waren es die Haltegriffe im Inneren des Fasses gewesen? Vielleicht hatte ihn ja auch der Lederharnisch überzeugt? Bei der Vorrichtung, die verhindern sollte, dass die Passagierin bei der halsbrecherischen Fahrt unkontrolliert hin und her geworfen wurde, war es am wahrscheinlichsten, dass er den Punkt der Sicherheit guten Gewissens abgehakt hatte. Oder war es am Ende doch das eilig hinterher geschobene Versprechen eines Testlaufs mit einem lebenden Objekt gewesen?

Bei der Frage, was sich dafür am ehesten eignen würde, hatten Annie für einen Augenblick leise Skrupel beschlichen. Wollte sie wirklich als gewissenlose Matrone gelten, die keine Schwierigkeiten damit hatte, sich die Wahrheit je nach Bedarf zurechtzubiegen? Doch nicht für lange: Mit dem Gedanken, dass sie nun schon so weit gekommen war, als dass es für sie noch ein Zurück gegeben hätte, wischte sie die aufkeimenden Bedenken beiseite.

 Wollte sie wirklich als gewissenlose Matrone gelten, die keine Schwierigkeiten damit hatte, sich die Wahrheit je nach Bedarf zurechtzubiegen? Doch nicht für lange: Mit dem Gedanken, dass sie nun schon so weit gekommen war, als dass es für sie noc...

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.

Bedenken hatte auch Frank Russell, der am Sonntagmorgen, wie telegrafisch angekündigt, pünktlich um neun Uhr aus dem Zug stieg; doch nicht nur wegen des ungünstigen Zeitpunkts, zu dem diese mehr als hartnäckige Mrs. Taylor ihr riskantes Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, sondern schon allein wegen der Möglichkeit, dass sie dabei draufgehen konnte. Und dann würde man ihn nicht nur in Amerika, sondern auch in Kanada suchen und ihn einem Gericht überantworten. Und wegen Mordes oder, im günstigsten Fall, wegen Beihilfe zum Selbstmord verurteilt zu werden, hatte er sich nicht für seine Zukunft vorgestellt.

Schon allein unter dieser Voraussetzung fragte er sich, ob sich ihr Stunt bei einer größeren Menge Menschen, die so ähnlich dachten, nicht zum Reinfall des Jahres entpuppen würde. Wenn er jedoch andererseits an die durch die unterschiedlichsten Revolverblätter angeheizte Sensationsgier der Massen dachte... So oder so war ohne rechtlichen Beistand nichts zu machen, und hier lag der Hase im Pfeffer. Seit dem Attentat auf den Präsidenten durch einen Anarchisten, das die Weltausstellung seit dem 6. September überschattete, befand sich die Welt im Ausnahmezustand.

Gerade noch hatte William McKinley im Temple of Music eine Rede gehalten, bei der Frank inmitten der Menge begeistert applaudiert hatte.

„Ausstellungen sind die Zeitnehmer des Fortschrittes", erinnerte er sich an die begeisterten Worte des Präsidenten, „sie zeichnen die Errungenschaften der Welt auf."

Vielleicht verhielt es ja wirklich so, dass sie Energie und Intellekt der Menschheit stimulierten und deren Verstand beschleunigten. Sie gelangten in das Haus und erweiterten und erhellten das tägliche Leben der Menschen? Welch makabre Vorstellung, dass nun genau der vor Enthusiasmus schier zu berstende Mann nun auf dem nur notdürftig beleuchteten Operationstisch langsam dahinsiechte. Und alles nur, weil die Ärzte nicht wagten, ihn aus Angst vor etwaigen Folgeschäden zu röntgen. So suchten sie die beiden Kugeln auf die althergebrachte Weise im Schein des von einer Pfanne reflektierten Sonnenlichts, während tausende von Glühbirnen woanders leuchteten. So aber dauerte sein Leiden volle acht Tage, und noch einmal fünf, bis man das Staatsbegräbnis arrangiert hatte.

Wie Frank, waren mehr als hunderttausend Trauernde waren an dem aufgebahrten Sarg vorbei gezogen, um ihrem Präsidenten die letzte Ehre zu erweisen. Da brauchte ihm diese Taylor nicht mit der Dringlichkeit ihres Anliegens zu kommen, auch wenn er insgeheim den Wagemut dieser mit Mitte vierzig bereits zu verblühenden Frau in ihrer ältlich anmutenden Kleidung bewunderte.

Zweiundvierzig hat sie gesagt? Ach, wäre sie doch nur zwanzig Jahre jünger, durchfuhr es ihn, als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen, ihr Stunt ließe sich so viel besser vermarkten.

Er konnte ja nicht ahnen, dass in Annie Taylors Lebenslauf etwas gravierendes nicht stimmen konnte und sie beim Tode ihres geliebten David ein kleines Kind hätte sein müssen.

Doch gottlob schöpfte er in diesem Punkt genauso wenig Verdacht wie sein Anwalt.


Silber's GlanzWhere stories live. Discover now