Epilog

21 5 10
                                    

17. November 1901: Ach, wäre die ‚Pan-American' doch nicht schon zu Ende gegangen. Wie viele Gelegenheiten es wohl für mich gegeben hätte, noch einmal zu glänzen, und nicht nur an diesem letzten Tag. Mit den zweihundert Dollar konnte ich gerade die Kosten, in die ich mich zur Verwirklichung meines Traums gestürzt habe, wieder hereinholen. *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.


Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.


Fünfzehn Tage war es jetzt her, seit die Pan-American Exposition ihre Pforten für immer geschlossen hatte, und doch vernahm Annie immer noch den Widerhall der tosenden Wasser, als die Queen of the Mist hinter den Nebelschleiern aus sprühender Gischt wieder aufgetaucht war. Bis an ihr Lebensende würde sie diesen für sie in der Zeit eingefrorenen Augenblick, als man sie ans Ufer gezogen hatte, nicht mehr vergessen: Als ein Arzt der Menge verkündet hatte, dass Mrs Taylor augenscheinlich nichts fehle, hatte das Publikum kein Halten mehr gekannt.

Nicht einmal das traditionelle Läuten der Siebzehn-Uhr-Glocke hatte den frenetischen Jubel übertönen können.

Umso befremdlicher war Annie der ungläubige, ja nahezu entsetzt klingende Ausruf des Staunens vorgekommen, der die noch nicht ganz vollständige Diagnose in vier Worten lapidar zusammengefasst hatte: „Mein Gott, sie lebt!" - und das von Carlisle Graham, der jede noch so kleine Gelegenheit nutzte, um sich ins Gespräch zu bringen. Doch sie hatte sich viel zu schwach gefühlt, um angemessen zu reagieren.

Ihr Manager, für den die Erinnerung an dieses Nachspiel an jenem Tag vermutlich längst zu verblassen begann, sah die Dreistigkeit Grahams, sich in ihrem Moment in den Vordergrund zu drängen und dadurch ihr Ansehen zu schmälern, natürlich ganz anders. In Franks Augen war es ihre eigene Schuld, wenn Carlisle ihren Stunt vor Filmkameras nachstellte, nachdem sie sich geweigert hatte, selbst in einem Film über ihr Abenteuer aufzutreten. Statt dessen sollte sie lieber froh sein, dass die Darstellerin in Grahams Film wenigstens von ansehnlichem Äußeren war. Wen kratzte es denn schon, dass diese Ella oder Bethany oder wie die Dame hieß, nicht die geringste Ähnlichkeit mit Annie aufwies?

Froh sein? Vielleicht bekam Annie ja nun die Quittung dafür, dass sie die erfreulich hohe Gage von 500 Dollar ausgeschlagen hatte, sehr zum Unmut von Frank. Aber es war auch nicht seine Würde, die unter der Zurschaustellung in einem New Yorker Panoptikum litt. Oder war diese neue, von Graham ersonnene Schmach die Strafe dafür, dass sie bei ihrem wahren Alter geschummelt hatte? Sie hätte es wissen müssen, dass diese Enthüllung demjenigen, der auspackte, ein hübsches finanzielles Polster verschaffen würde. Aber dass es am Ende ausgerechnet die texanische Verwandtschaft war, die...

Contenance, Annie, Contenance, rief sie sich selbst zur Räson, leg die Impertinenz dieses Graham zu den Akten, auch wenn ihr das zunehmend schwerer fiel. Seine mehr als lästige Angewohnheit, überall aufzutauchen, ließ sie sich immer öfter fragen, ob das seine Methode war, es ihr in kleinen Dosen heimzuzahlen. Und nur, weil sie das vollbracht hatte, wozu er sich nicht getraut hatte.

Es musste schon sehr an dem Stolz des Athleten nagen, wenn eine dreiundsechzig Jahre alte Lehrerin, die bisher nicht im Licht der Öffentlichkeit gestanden hatte, ihm wortwörtlich das Wasser abgrub. Welch ständiger Dorn im Auge ihr dieser Kerl doch war! Wenn sie nicht aufpasste, setzte man Graham eines Tages sogar noch direkt neben ihr bei. Gott bewahre, schauderte ihr bei dem Gedanken daran. Das einzige, was dagegen half, war der Gang zum Notar und eine entsprechende Verfügung in ihrem Testament. Doch zuerst musste sie noch den Gang nach Canossa hinter sich bringen und versuchen, ihren Streit mit Frank beizulegen.

Seit die Wahrheit in allen Zeitungen gestanden hatte, war er gar nicht mehr gut auf die ältliche Matrone, wie er sie zuletzt ziemlich abfällig genannt hatte, zu sprechen. Vielleicht ließ er ja mit sich reden, wenn sie sich überwand und ihm bei künftigen Engagements entgegenkam.


Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.


Kennedys Warenhaus lag nur wenige Blocks von der Unterkunft, in der Frank residierte, entfernt. Nur noch zwei Tage bis zu ihrer Abreise über Bowling Green nach Detroit lagen vor Annie. Die Großstadt in Michigan war von Frank zur letzten Station ihrer Show-Tour auserkoren worden, doch so lange wollte Annie ihr Gespräch mit Frank nicht aufschieben. Je weiter sich das Jahr seinem Ende näherte, desto weniger hielt es Annie für wahrscheinlich, dass ihre Auftritte mit Henry und der Queen ihre Anziehungskraft beibehielten. Schließlich war bald Weihnachten, da waren die Menschen mit anderen Dingen beschäftigt. Ob der Zeitpunkt für das Veröffentlichen ihrer Memoiren günstig war?

Nur noch einmal im Schaufenster mit Henry auf dem Fass posieren, seufzte Annie, als sie um die Ecke bog. Nur noch wenige Schritte, dann stünde sie vor dem Kaufhaus, dessen Besitzer es sich nicht hatte nehmen lassen, ein ganz bestimmtes der großen Schaufenster wie ein Leuchtfeuer die Dämmerung erhellen zu lassen, obwohl das Zentrum von Cleveland an diesem windigen Novemberabend wie ausgestorben wirkte.

Vielleicht war das ein Glücksfall, da sie andernfalls in der Kälte hätte verweilen müssen. Langes Stehen fiel ihr zunehmend schwerer, und wenn sie sich recht besann, war sie geradezu erleichtert darüber, dass ihr Auftritt im zugigen Schaufenster bald ein Ende finden würde. Schließlich wurde sie nicht jünger. Zudem gaukelten die hellen Lichter in „ihrem" Fenster den Passanten eine Wärme vor, die es an der Stelle, wo die Queen stand, nicht gab.

Wo die Queen stand?

Oder besser gesagt, wo sie hätte stehen müssen, denn das Schaufenster gähnte Annie in seiner ganzen, strahlenden Leere erbarmungslos entgegen. Für einen Augenblick spürte sie ihr Herz innehalten, nur um gleich darauf umso heftiger bis zu ihrem Hals hinauf zu klopfen. Ein unerhörter Verdacht drängte sie dazu, auf der Stelle umzudrehen, kaum dass ihre Fassung zurückkehrte. So schnell ihre Füße sie trugen, hastete sie die spärlich beleuchtete Straße hinunter; jeder Block zog sich dahin wie eine kleine Ewigkeit. Außer Atem und sich im Sekundentakt hebender und senkender Brust kam Annie schließlich vor dem Gästehaus zum Stehen. Mit jedem ihrer Schläge gegen die schwere Eichentür sank ihr Mut ein wenig mehr.

Die Worte des grimmig dreinschauenden Managers bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen, die der Anblick des leeren Schaufensters heraufbeschworen hatte: Frank M. Russell war Hals über Kopf abgereist, ohne die Rechnung zu bezahlen.

Der Vogel war ausgeflogen - mit unbekanntem Ziel.


Silber's GlanzWhere stories live. Discover now