Kapitel 3 - Journey behind the falls

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31. August 1901: Natürlich wird es nötig sein, das Fass mehr als eine Meile oberhalb der Fälle zu Wasser zu lassen. So kann es ganz allmählich ganz von alleine in Fahrt kommen. Wenn es in die Tiefe geht, werde ich schon beizeiten spüren, und dann erst werde ich mein Gefährt versiegeln *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.


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Wie überwältigend doch der Temple of Music mit seinen enormen Ausmaßen gewesen war. Wieder zurück in Bay City, setzte sich Annie mit einer Tasse Malzkaffee ans Fenster, um die vergangenen Wochen Revue passieren zu lassen. 

O ja, die Weltausstellung war in jeder Hinsicht ein voller Erfolg, und nicht nur wegen Weitläufigkeit des Veranstaltungsgeländes, das man an einem einzigen Tag wohl kaum zur Gänze erkunden konnte. Auch das umfangreiche und vielfältige Unterhaltungsprogramm in ganz Buffalo konnte sich wirklich sehen lassen. Was Annie aber wirklich beeindruckt hatte, war das Brüllen der gigantischen Wasserfälle. Selbst die lautesten Militärkapellen in besagtem „Tempel der Musik" hatten gegen sie nicht die geringste Chance.

Es war Annie wie ein Wink des Schicksals vorgekommen, dass sie noch in Bay City so kurzfristig und aus heiterem Himmel eine Anstellung gefunden hatte: als Gouvernante auf Zeit für die siebenjährige Nellie

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Es war Annie wie ein Wink des Schicksals vorgekommen, dass sie noch in Bay City so kurzfristig und aus heiterem Himmel eine Anstellung gefunden hatte: als Gouvernante auf Zeit für die siebenjährige Nellie. Ihre Eltern, John und Winona Dexter, hatten bei einem Preisausschreiben das große Los gezogen und als ersten Preis eine viertägige Reise nach Buffalo mit Übernachtung in einem der ersten Hotels am Platz gewonnen. Doch wohin mit Nellie? Die Unterbringung bei Verwandten war wegen deren plötzlicher Erkrankung in weite Ferne gerückt, und so hatten die Dexters lange mit sich gehadert, ob sie den Preis annehmen sollten. Bis sie Annie begegnet waren und in ihr die ideale Betreuung für ihr Töchterchen gefunden hatten. Eine kurze Rücksprache mit dem Verleiher des Preises, und sie hatten das feudale Hotel gegen eine günstigere Herberge für zwei zusätzliche Personen eintauschen können.

Annie, die schon in früheren Jahren weit herumgekommen war, hatte diese Chance freudig ergriffen und nahm es gleichmütig in Kauf, dass sie das Kind der Dexters hütete, während diese sich im Temple of Music einen schönen Abend machten und sich den Auftritt der jüngsten Mezzosopranistin der Welt ansahen. Mochte die neunjährige Nina Morgana mit ihrem Ausnahmetalent für die Besucher der Aufführung auch noch so eine große Sensation sein, so interessierte sich Annie doch ausschließlich für die zahlreichen Artikel über Edison und Tesla, die Pioniere der Elektrizität, im Buffalo Enquirer und den Buffalo Evening News.

Was man mit dieser neuartigen Entdeckung alles erreichen konnte, führte ihr eindrucksvoll der Electric Tower vor Augen. Nach Einbruch der Dämmerung konnte man seine gleißende Beleuchtung stundenlang bewundern, und mit seinen weithin leuchtenden Strahlen erinnerte er Annie an einen Leuchtturm. Noch lange nachdem sie Nellie zu Bett gebracht hatte, grübelte sie über die Frage, woher die ungeheuren Mengen an Energie, die so ein technisches Meisterwerk verschlang, wohl kommen mochten.

Bei der Geschwindigkeit, mit der diese technische Entwicklung voranschritt, war sie nicht die Einzige, die sich diese Frage stellte, und dementsprechend ausgebucht waren die Veranstaltungen, die mit Nikola Tesla als Gastredner warben. Ob man sich außer spektakulären Experimenten auch eine Portion Drama versprach, weil sich Marconi als größter Konkurrent des Serben ebenfalls angekündigt hatte, war für Annie nicht von Bedeutung. Es war ein Artikel im örtlichen Blatt, in dem das neue Elektrizitätswerk an den Niagarafällen in den höchsten Tönen gelobt wurde, der ihre Aufmerksamkeit errang.

Das müssen wirklich gewaltige Mengen an Wasser sein, wenn sie daraus die so dringend benötigte Energie gewinnen wollen, war es ihr durch den Sinn gegangen. Keine Frage, dass sie sich selbst ein Bild von dem Ort machen musste, an dem sie das größte Wagnis ihres bisherigen Lebens einzugehen gedachte. Welch glücklicher Zufall, dass die Dexters sich von der allgemeinen Begeisterung für die Niagarafälle hatten anstecken lassen und gleich zu Beginn der Reise beschlossen hatten, dort auf jeden Fall hinzufahren, und so sah Annie mit Spannung dem angekündigten Ausflug entgegen.

Umso erstaunter war sie am nächsten Morgen, als sie eine, um es vorsichtig auszudrücken, mehr als nur leichte Verstimmung bei Winona Dexter bemerkte, als diese den Frühstücksraum betrat, ohne ihren ramponierten Gatten auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch während seine Gattin sich lediglich eine Tasse Kaffee und ein Hörnchen servieren ließ, hinderten ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Lippe John Dexter nicht, den dargebotenen Speisen wie gewohnt zuzusprechen oder die Fahrt nach Niagara Falls wie versprochen anzutreten. Warum sollte die kleine Nellie unter der „himmelschreienden Narretei ihres Vaters", wie seine bessere Hälfte später betont beiläufig fallenließ, leiden und auf ein einmaliges Erlebnis verzichten?

Himmelschreiende Narretei, runzelte Annie die Stirn, worauf hatte sich ihr Brötchengeber bloß am vergangenen Abend eingelassen? Die Antwort kannte wohl nur der Wind.

Der Wind

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Der Wind... Nein, starker Winde bedurfte es nicht, um die Gischt von den allmählich in Sicht kommenden Horseshoe Falls zu ihnen hinüber zu treiben. Je näher sie ihnen kamen, desto lauter wurde das schließlich alles übertönende Wüten der herabstürzenden Wassermassen. Donnernde Wasser – nicht von ungefähr kam der Name, den die Ureinwohner für diese Laune der Natur mit ihren tückischen Strömungen hatten.

Donnernde Wasser... Beinahe hätten sie Annie die Sinne geraubt. Ein falscher Schritt, und selbst eine Frau von ihrer Statur würde Gefahr laufen, von dem unheilvollen Sog mitgerissen zu werden. Wie verheerend musste sich dieser erst auf ein zartes Kind von sieben Jahren auswirken? So sehr es sie auch reizte, sich näher als notwendig an die reißenden Gewässer heranzuwagen, so musste sich schon im Interesse der kleinen Nellie bezähmen und dafür sorgen, dass ihrem Schützling nichts geschah. Alles andere hätte sie sich sonst nie verziehen.

Sie musste sich damit begnügen, das Schauspiel von einem sicheren, leicht erhöhten Standort aus zu beobachten. Trotz der Entfernung sah sie genug, um das Wesentliche zu erkennen - eine Einsicht, so gewaltig wie das ohrenbetäubende Grollen von der anderen Seite des Flusses, die ihr mit Wucht in den Magen fuhr: die Erkenntnis, dass sie sämtliche Berechnungen, auf die sich ihre in penibler Kleinarbeit angefertigten Modellzeichnungen stützten, über den Haufen werfen musste und noch einmal ganz von vorne anfangen durfte.


Silber's GlanzWhere stories live. Discover now