Kapitel 4 - Ja, mach nur einen Plan

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15. September 1901: Ich hieße nicht Annie Taylor, wenn ich mich von einem Rückschlag wie diesem von meinem Vorhaben abbringen ließe. *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.

Erschöpft, aber erleichtert, fegte Annie am späten Abend die letzten Kartonreste zusammen, die sich über den Fußboden verteilt hatten

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Erschöpft, aber erleichtert, fegte Annie am späten Abend die letzten Kartonreste zusammen, die sich über den Fußboden verteilt hatten. Sorgsam darauf bedacht, das Modell, an dem sie tagelang gearbeitet hatte, nicht vom Tisch zu stoßen, ließ sie äußerste Vorsicht walten. Nichts wäre peinlicher gewesen als mit leeren Händen bei ihrem Treffen mit dem Inhaber der West Bay City Cooperage Company dazustehen, hatte sich doch dieser beim Anblick ihrer Entwürfe zunächst ziemlich reserviert gezeigt.

Wasserabweisendes Eichenholz und am Boden eine neunzig Kilogramm schwere Verstärkung aus Metall: Er hatte sich beim besten Willen nicht vorstellen können, wozu eine alleinstehende Frau mittleren Alters ein viereinhalb Fuß hohes Fass mit einem Durchmesser von drei Fuß benötigte, wenn doch bisher einzig die Brauerei Kolb ihre Fässer von seiner Firma bezog. Für einen Moment hatte Annie mit sich gehadert, ob sie die Katze aus dem Sack lassen und Mr. Saunders über den wahren Zweck dieser Spezialanfertigung aufklären sollte.

Wollte sie tatsächlich die viele Zeit, die sie bis jetzt in ihr Vorhaben gesteckt hatte, gefährden, indem sie es jetzt schon preisgab? Nicht umsonst hatte sie gleich nach ihrer Rückkehr aus Buffalo die alten Zeichnungen ohne langes Zaudern verbrannt und an den neuen so lange herumprobiert, bis sie wusste, auf welches Detail es ankam, damit das Fass aufrecht den Fluss hinuntertreiben konnte.

Es gab keine Garantie für sie, ob sie Mr. Saunders trauen konnte. Was, wenn er das Geschäft ablehnte und gleichzeitig mit ihrer Idee woanders hausieren ging? Doch dann hatte sie sich einen Ruck gegeben. Im Grunde konnte es dem Inhaber der Küferei in der Fremont Street gleich sein, weshalb Annie mit ihrem Ansinnen an ihn herantrat, so lange nur die Finanzierung stimmte. Und was das betraf, so schwebte ihr auch schon eine Lösung vor, ohne zu wissen, ob ihr kühner Plan auch aufgehen würde.

 Und was das betraf, so schwebte ihr auch schon eine Lösung vor, ohne zu wissen, ob ihr kühner Plan auch aufgehen würde

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Frank M. Russell: Den Namen hatte sie sich gut eingeprägt, seit ihr dieser Werbezettel sprichwörtlich vor die Füße geweht worden war. Wie war das doch nochmal mit der Antwort, die nur der Wind kannte?

Kaum zurück von den Niagarafällen, hatte Annie sofort mit dem Packen begonnen, da die Dexters am nächsten Morgen Buffalo wieder verlassen wollten. Nur äußerlich die Ruhe selbst, arbeitete es in ihr, denn in Gedanken war sie schon längst wieder beim Überarbeiten ihrer Berechnungen. Ihr Fass durfte nicht zu leicht sein, damit es nicht von dem enormen Druck der herabstürzenden Wasser zerdrückt wurde, aber auch nicht so schwer, dass es bis auf den Grund sank. Sie wusste nicht, was schlimmer war: im hilflos umhertrudelnden Fass von den Felsen am Fuß der Fälle zerschmettert zu werden oder zu lange oder gar für immer unter Wasser zu bleiben...

Um einen klaren Kopf zu bekommen, hatte sie eine kurze Verschnaufpause eingelegt und war auf die Veranda getreten, wo ihr ein Korbsessel aufgefallen war, an dessen Bein ein Blatt Papier festhing und im Wind flatterte. Vorsichtig entfernte sie den Zettel, um ihn sich näher anzusehen. In buntesten Farben warb das Flugblatt marktschreierisch für jene Veranstaltung, der John Dexter seinen angeschlagenen Zustand und den damit einhergehenden Unmut seiner Gattin verdankte: ein Preisboxen.

Schrecklich, hatte sie gedacht, dass Leute freiwillig eine Menge Geld hinlegen, um sich zu prügeln, und dann auch noch den Kürzeren zu ziehen. Sie wollte gar nicht wissen, in welcher Verfassung John Dexters Gegner aus dem Kampf hervorgegangen war, doch wie sie es sah, zahlte sich für einen ein solches Spektakel auf jeden Fall aus: den Boxpromoter.

Der Mann, dessen Name in großen Lettern an den Fuß des Pamphlets gedruckt worden war. Vornehme Zurückhaltung sah anders aus, aber vielleicht bedurfte es wirklich einer solchen Persönlichkeit, die lautstark für einen trommelte, um ein zahlungswilliges Publikum anzuziehen. Charles Blondin wäre mit seinem Spaziergang auf dem Hochseil über die Niagarafälle vor vierzig Jahren niemals so erfolgreich gewesen, wenn niemand die Werbetrommel für den Franzosen gerührt hätte - oder Carlisle Graham, der ein Vierteljahrhundert später mit seinem Eichenfass die Whirlpool Rapids durchquert hatte.

Doch ob hoch in den Lüften oder umringt von reißenden Strudeln, eines war ihr sofort aufgefallen, als sie sich die entsprechenden Artikel im Enquirer angesehen hatte: Beide Abenteurer wirkten auf den Porträtaufnahmen äußerst charmant und vor allem erheblich jünger als Annie an diesem Abend im August. Zwei völlig unterschiedliche Abenteurer, die wussten, wie man sich am geschicktesten vermarktete - da konnte Annie nicht mithalten.

Aber das musste sie auch gar nicht. Denn nun kannte sie jemanden, der diese Aufgabe für sie übernehmen konnte.

Frank M

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Frank M. Russell - mit diesem Namen im Hinterkopf war sie in die Verhandlung gegangen und hatte Mr. Saunders ihre Entwürfe vorgelegt. Der hatte sich geräuspert und die Stirn gerunzelt, bevor er sich wortlos in sie vertieft hatte. Das Schweigen war Annie wie eine Stunde vorgekommen, bis Mr. Saunders sich zu einer ersten Einschätzung durchgerungen hatte.

„Unter einer Bedingung, Mrs. Taylor", hatte er ihr schließlich ein Angebot gemacht, „bauen Sie mir ein Modell im Maßstab 1:8 und wir reden weiter."

Ein Modell bauen, das sagt sich so leicht, war Annie nach diesem Gespräch ernüchtert ihre Möglichkeiten im Geiste durchgegangen. Doch für welches Material sie sich am Ende auch entschied, es war die mangelnde Erfahrung im Modellbau, die ihr Kopfzerbrechen bereitete.

Aber sie wollte nicht länger Annie Taylor heißen, wenn sie sich auch von einer weiteren unvorhergesehenen Hürde vom einmal eingeschlagenen Weg abbringen ließ und bereits aufgab, bevor es richtig begonnen hatte.

Silber's GlanzWhere stories live. Discover now