Kapitel 7 - Kein Zurück

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23. Oktober 1901: O Herr. Nun, da alle Vorbereitungen getroffen sind, bitte ich Dich um Kraft, den morgigen Tag und alles, was noch kommen mag, mit heiler Haut zu überstehen. Werden meine Anstrengungen noch im Diesseits Früchte tragen? Oder trete ich meinem Schöpfer entgegen? *** aus dem Tagebuch von Annie Taylor.


Unbeschadet hatte der Kapitän der Maid of the Mist, eines Ausflugsdampfers, die Queen of the Mist aus den schäumenden Fluten gezogen, als diese nach dem Fall von schier unendlich anmutenden anderthalb Minuten zwischen den scharfkantigen Felsen am ...

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Unbeschadet hatte der Kapitän der Maid of the Mist, eines Ausflugsdampfers, die Queen of the Mist aus den schäumenden Fluten gezogen, als diese nach dem Fall von schier unendlich anmutenden anderthalb Minuten zwischen den scharfkantigen Felsen am Fuße der Horseshoe Falls emporgeschossen war.

The Maid of the Mist... für einen Augenblick huschte der Anflug eines Schmunzelns über Annies Gesicht, als sie der feinen Ironie in Bezug auf die Ähnlichkeit der beiden Namen gewahr wurde. Allerdings nicht für lange.

Obwohl sie spürte, wie sich dank der Unversehrtheit von Fass und vierbeinigem Passagier eine Last von ihrem Herzen löste, wollte sich die Anspannung, unter der sie seit ihrer Ankunft in Niagara Falls stand, nicht legen. Nervös bis über den Mond hinaus, so hätte sich ihr David vermutlich ausgedrückt und ihr beruhigend eine Hand auf den Arm gelegt, so wie damals, kurz vor dem Gang zum Traualtar. Zwar lag dieser schon Jahrzehnte zurück, trotzdem stand er ihr so deutlich vor Augen, als hätte er erst am Tag zuvor stattgefunden. Vielleicht waren sie ja bald wieder vereint, blitzte ein Gedanke in ihr auf und sie erschrak bis ins Mark.

Zugegeben, in letzter Zeit hatte sie immer öfter an ihren schon lange verblichenen Gemahl gedacht, es aber als eine Gaukelei der Sinne abgetan, die das Alter mit sich brachte. Doch nun wurde ihr mit aller Deutlichkeit zum ersten Mal bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. Und es gab niemanden, dem sie unterstellen konnte, er habe sie zu diesem Himmelfahrtskommando überredet. Nein, in diese Zwickmühle hatte sie sich ganz alleine hineinmanövriert. Nun konnte sie auch von selbst zusehen, wie sie aus ihr wieder herauskam.

Nervös bis über den Mond hinaus? Die an ihrem Hochzeitstag lakonisch hingeworfene Bemerkung Davids traf es nicht annähernd. Und doch - so kurz vor dem entscheidenden Tag, ohne eine Chance auf ein Zurück, war niemandem gedient, wenn sie den Teufel an die Wand malte.

Sicher, der Queen of the Mist hatte der 167 Fuß tiefe Fall nicht geschadet - im Gegensatz zu Henry, der ein paar leichte Schürfwunden am Kopf davongetragen hatte, war sie auch nur ohne die winzigste Schramme von Captain Carter eingefangen worden. Und Henry? Unversehens kam ihr die Schlagzeile im örtlichen Klatschblatt in den Sinn: Die Katze kam unversehrt herausgesprungen - ein wenig angeschlagen, aber ansonsten wohlauf. Wie hatte sie nur diesen Satz und dieses Bild vergessen können, und mit ihnen den Fotografen?

Kaum war Henry seinem trudelnden unsanft hin und her geschleuderten Gefängnis entkommen, war ihr gerade so viel Zeit geblieben, das Fell des Vierbeiners mit einem Leinentuch notdürftig trockenzureiben. Dann hatte sie sich auch schon für den jungen Mann in Positur stellen müssen: sie, mit einem angewinkelten Arm und einer Hand locker an ihrer rechten Hüfte, während ihre andere Hand beruhigend auf Henrys noch nicht ganz trockenem Fell lag. Der thronte ungewöhnlich ruhig auf dem Fass und sah scheinbar unbeeindruckt auf die ungelenken Schnörkel unterhalb seiner Pfötchen hinab.

Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie jede Wette eingegangen, dass jemand dem Tierchen ein Beruhigungsmittel verabreicht hatte. Im Nachhinein hielt sie es jedoch für wahrscheinlicher, dass sein sediert wirkender Zustand von einem Schock herrührte. Ein Schock, ausgelöst durch den Sturz ins Bodenlose und das unkontrollierte Trudeln seines stockdunklen Gefängnisses im Zusammenspiel mit dem ohrenbetäubenden Donnern um ihn herum – ja, das wäre eine logische Erklärung dafür, dass sein Fell wie von Zauberhand während der kurzen, aber heftigen Fahrt silberweiß geworden war.

Sie wusste, sie sollte Abbitte leisten, doch viel mehr sollte sie sich freuen, dass dem Kater nicht mehr passiert war; und selbst diese mehr oder weniger harmlosen Kratzer wären wahrscheinlich vermeidbar gewesen, wenn sie die Queen of the Mist weicher ausgepolstert hätte. Aber was halfen ihr sämtliche Spekulationen, wenn sie es bei ihrer eigenen Fahrt nicht durch die engen Stellen zwischen den tückischen Strudeln und Wirbeln hindurch schaffte?

Schön, dass die Probefahrt ein solcher Erfolg gewesen war, flüsterte ihr ein warnendes Stimmchen tief in ihrem Innern zu, aber irgendetwas konnte an dieser Rechnung nicht stimmen. Bei ihrer Probefahrt war die Queen of the Mist um etliches leichter gewesen, doch mit einer Frau ihrer Gewichtsklasse darin, wusste niemand zu sagen, wie sich das Gefährt in den reißenden Fluten verhalten würde. An den Kraftakt beim Herausfischen nach vollbrachter Tat wollte sie gar nicht erst denken. Falls der schlimmstmögliche Fall tatsächlich eintreten sollte, so war sie nur zu gerne bereit, ihr Schicksal anzunehmen – als Sühne und gerechte Strafe für die Tortur, der sie den ehemals pechschwarzen und nun silberweißen Henry ausgesetzt hatte. Seltsam, dass diese Verwandlung niemandem aufgefallen war. Sowohl die New York Times als auch die Sonderausgabe der Times-Press hatten sich überschlagen in ihrem Enthusiasmus.

FASS MIT KATZE GETESTET – FRAU HOCHERFREUT ÜBER DEN AUSGANG DES EXPERIMENTS

Hocherfreut? Da kannten die Revolverblätter sie aber schlecht. Wenn das Freude war, wie sahen dann gegenteilige Gefühlsregungen aus? Sie konnte sich schon glücklich schätzen, wenn es ihr nicht schlimmer erging als Henry mit seinen Kratzern und seinem weißen Fell.

Haare, die nach dem Tode weiterwachsen. Über Nacht plötzlich schneeweiß gewordenes Haar. Weißes, vormals schwarzes Fell... der Gedanke suchte sie immer wieder heim. Waren diese ganzen seltsamen Mythen, die man sich erzählte, am Ende doch wahr? Wenn dem so war, was focht das sie an? Was waren schon ein paar weiße Strähnen mehr in ihrer grauen Haartracht, wenn ihr Leben auf dem Spiel stand? 

Denn im Gegensatz zu ihrer Katze hatte sie nur dieses eine.


Silber's GlanzWhere stories live. Discover now