19 - Heimat - Julian

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- Mittwoch, 03.04.24 - FOOLS/Troye Sivan -

Gestern nach dem Training hatte ich die Nachricht von Flo erhalten, dass er spontan zu Hause wäre und Lust hatte, mit mir einen Kaffee zu trinken. Florian Wirtz war einer meiner besten Kindheits-Freunde und wir waren beinahe wie Brüder aufgewachsen. Unsere Eltern waren eng befreundet, was es uns ermöglichte, beinahe jeden Nachmittag zusammen Sport zu machen. Ob Handball, Fußball, Fahrrad fahren oder Schwimmen - wir waren bei eigentlich allem unzertrennlich gewesen.

Aber während mich meine Leidenschaft zum Handball gezogen hatte, hatte er schon immer davon geträumt, Fußballprofi zu werden. Wie ironisch es doch war, dass beide unsere Träume in Erfüllung gegangen waren. Ich verfolgte, so gut wie es ging, jedes der Fußballspiele des Bayer Leverkusen im Fernsehen mit und auch er hatte versprochen, so oft wie es ging in die Schwalbe-Arena zu Spielen zu kommen.

Er war wie der zweite Bruder, den ich nie hatte. Es hatte uns damals natürlich zusätzlich noch in die Karten gespielt, dass seine Mutter meine Trainerin war. Wie einfach damals noch alles gewesen war. Inzwischen sahen wir uns, nicht zuletzt wegen des Leistungssports, nur noch sporadisch. Doch jedes Mal, wenn wir uns sahen, war es so, als wären wir wieder fünfzehn Jahre alt und gerade dabei, unsere Träume zu verwirklichen.

Deshalb hatte ich auch keine Sekunde gezögert, als ich ihm für heute spontan zusagte. Nun saß ich im Auto und machte mich auf den Weg nach Pulheim, um davor meine Eltern zu besuchen. Da ich ganz alleine auf der langen Landstraße war, ließ ich meine Gedanken streifen.

Ich hatte doch tatsächlich so kurzfristig noch eine kleine, aber feine Wohnung in Köln gefunden und hatte vorher einen Besichtigungstermin gehabt. Da ich der Vermieterin meine Lage erklärt hatte, war sie sofort damit einverstanden, dass ich so bald wie möglich einziehen könnte. Ich hatte ursprünglich damit gerechnet, dass sie mit 'so bald wie möglich' in zwei Wochen meinte. Deshalb hatte es mich gerade eben von den Socken gehauen, als sie anbot, mir bereits am Samstag den Schlüssel auszuhändigen, sodass ich schon in drei Tagen einziehen könnte.

Da mir die Wohnung sehr gefallen hatte und ich mir durch meine Position auch eine etwas teurere Bleibe suchen konnte, habe ich nicht lange überlegt und direkt zugestimmt. Der noch nicht unterschriebene Mietvertrag lag neben mir auf dem Beifahrersitz und ich hatte geplant, meinen Vater noch kurz einmal darüber lesen zu lassen, da er in unserer Familie die meisten Verträge unterschrieben hatte. Aber schon beim ersten Lesen waren mir keine Lücken oder Hintertürchen aufgefallen.

Ich hoffte so sehr, dass die Wohnung mein neues Zuhause werden würde. Gerade jetzt, nachdem ich nicht mehr zurück in meine alte Wohnung konnte. Die Nacht im Hotel hatte mich so ausgelaugt, dass ich jetzt schon keine Lust mehr darauf hatte. Ich war Hotels eigentlich gewohnt von den ganzen Auswärtsspielen, aber auf Dauer war das einfach kein Lebensstil, den ich so führen wollte. Vom Finanziellen ganz zu schweigen.

Ohne genau darauf zu achten, war ich in die Straße eingebogen, in welcher unser kleines Einfamilienhaus stand. Ich hupte kurz und hielt dann auf dem leeren Parkplatz vor dem Haus an. Die Haustür öffnete sich und ich sah das freudige Gesicht meiner Mutter, das sie aus der Tür streckte. Automatisch musste ich auch lächeln.

Wie ich meine Familie die letzten Tage doch vermisst hatte. Eigentlich versuchte ich, sie mindestens einmal in der Woche anzurufen und auch meinen Geburtstag hatte ich zu Hause gefeiert, aber trotzdem hatte ich die letzten zwei Wochen nichts mehr von ihnen gehört. So stieg ich schnell aus und schnappte die Unterlagen vom Beifahrersitz, bevor ich auf sie zuging und eng umarmte. Dabei störte mich es auch nicht, dass sie beinahe zwei Köpfe kleiner war als ich, inzwischen waren wir beide das gewohnt.

"Jul, wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, dass du noch ein bisschen gewachsen bist." Ich kratzte mich am Hinterkopf und lachte. "Wenn, dann bin ich die letzten Wochen geschrumpft." Sie lachte auch und ließ mich rein. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie an ihren angestammten Platz. Wie automatisiert doch alles hier war.

111 km/h  /// Julian Köster ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt