CP 6: Die Schatten des Kinderheims

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Ich arbeitete seit Jahren im örtlichen Kinderheim, einem alten, herrschaftlichen Gebäude, das einst einer wohlhabenden Familie gehörte.

Die dunklen Holzböden knarrten unter meinen Füßen, während ich die langen Flure entlangging und die Kinderzimmer überprüfte. Es war ein kalter Winterabend, und die Schatten, die von den wenigen Lichtern geworfen wurden, tanzten an den Wänden.

An jenem Abend traf ich zum ersten Mal auf sie - ein kleines, blindes Mädchen namens Lily.

Sie war still, fast schon unheimlich still.
Ihre milchigen Augen schienen in eine Welt zu blicken, die nur sie sehen konnte. Ich versuchte, freundlich zu sein, mich vorzustellen und ihr zu versichern, dass sie hier sicher sei, nachdem ich sie dazu gebracht hatte, mir ihren Namen zu sagen.

"Hallo Lily, ich bin John, einer der Betreuer hier. Du bist jetzt in Sicherheit."

Sie antwortete nicht, nur ein leises, fast unhörbares Murmeln entwich ihren Lippen. Ich schob es auf ihre Angst, hervorgehoben aufgrund der neuen Umgebung.

Ich nahm mich ihr an, sowie ich mich zuvor bereits auch den anderen 36 Kindern annahm, die alle aus verschiedensten Gründe hier waren. Das keiner dieser Gründe ein schöner war, muss ich an dieser Stelle wohl kaum erwähnen.

Der Staat förderte das Kinderheim gerade mit den nötigsten Mitteln, weshalb die Frage danach, ob Lily bleiben könne, vorerst unbeantwortet blieb.

Das konnte es doch nicht sein, dachte ich. Wie weit war es denn bitte schon gekommen, dass wir darum verhandeln mussten, ob ein alleinstehendes Kind hier bleiben durfte?

Ich legte mich mit der Heimleitung an, kämpfte dafür, dass man Lily half.

Sie konnten es sich ohnehin nicht leisten, mich zu kündigen. Dennoch beschlich mich innerhalb der Verhandlungen der Gedanke, dass die Heimleitung mir etwas in Bezug auf Lily verheimlichte - sie starrten mir fast schon mitleidig entgegen, während sie versuchten es mir auszureden, ohne mir dabei wirkliche Gründe genannt zu haben.

Und so trug ich den Sieg davon, als die Heimleitung schließlich einwilligte. Das sie jedoch zum Wohle meiner eigenen Sicherheit gegen meine Interessen handelten, erfuhr ich erst, als es bereits zu spät war. "Viel Glück, John.", sprachen sie mir noch hinterher, als ich davon ging.

In den folgenden Tagen bemerkte ich, dass Lily sich anders verhielt als die anderen Kinder. Sie schien keine Angst vor der Dunkelheit zu haben, im Gegenteil, sie schien sich darin zu wohlzufühlen.

Doch machte ich mir daraus nicht's, schließlich war sie blind. Es lag nah, dass sie die Dunkelheit gewohnt war. Aber auch sprach sie selten, und wenn sie es tat, murmelte sie immer wieder den gleichen Satz: "Die Schatten flüstern mir zu."

Eines Nachts, als ich meine Runde durch das Heim machte, hörte ich ein leises Flüstern aus Lilys Zimmer. Ich öffnete die Tür und sah, wie sie lächelnd in der Dunkelheit ihres Bettes saß.

"Lily, was machst du da?", fragte ich verwundert, da bereits alle anderen Kinder schliefen.

"Die Schatten flüstern mir zu, John. Sie sagen mir Dinge."

Ich schüttelte den Kopf, ein unheimliches Gefühl breitete sich in mir aus. "Lily, hör mal, es ist schon spät. Du solltest dich nun schlafen legen.", erklärte ich, woraufhin sie einverstanden und noch immer lächelnd nickte. Ich schloss die Tür zu ihrem Zimmer, und fuhr meine Runde fort.

Danach beschloss ich, das fragwürdige Verhalten seitens Lily der Heimleiterin zu melden, aber sie schoben es auf die Blindheit und Fantasie des Mädchens.

Eine Woche später geschah etwas Unheimliches.
Einige Kinder berichteten, sie hätten gesehen, wie Lily mit jemandem sprach, aber als ich dem auf den Grund gehen wollte, fand ich sie wie immer allein in ihrem Zimmer vor.

Die anderen Kinder beschrieben dennoch eine schwarze Gestalt, die einem Schatten glich. Und so begann ich damit, die Fantasie des kleinen Mädchens in Frage zu stellen.

Eines Nachts, als ich wieder meine Runde machte, hörte ich Lilys Stimme aus einem der leeren Zimmer. Ich öffnete die Tür und sah, wie sie in Mitten des Raumes stand, ein Lächeln auf den Lippen trug und ihre Arme ausgestreckt hielt, als würde sie jemanden umarmen.

"Lily, wer ist da?"

"Die Schatten, John. Sie sind hier, um mich zu holen."

Plötzlich wurde der Raum eiskalt, und ich spürte, wie etwas an mir vorbeizog.
Ich sah, wie sich ein Schatten von der Wand löste und auf Lily zubewegte. Ich konnte nichts tun, außer mit anzusehen, wie der Schatten sie verschlang und sie daraufhin einfach verschwand.

Ich stand da, sprachlos, unfähig zu begreifen, was ich gerade gesehen hatte. Ich rannte zur Heimleiterin, um ihr zu erzählen, was passiert war, aber als wir zurückkamen, war Lily wieder da, als wäre nichts gewesen.

Ich zweifelte dennoch nicht an meinem Verstand. Ich war nicht verrückt, und wußte was ich gesehen hatte. Dies schien auch die Heimleitung zu verstehen, doch unternahmen sie noch immer nicht's.

In den folgenden Tagen geschah nichts Ungewöhnliches, bis ich eines Nachts wieder Lilys Stimme hörte. Dieses Mal erklang ihre sanfte Stimmte jedoch nicht aus ihrem Zimmer, oder einem der anderen Räume.

Nach Minuten der panischen Suche, fand ich mich schließlich im Keller wieder, wo auch Lily sich befand. Sie stand da, umgeben von Schatten, und lächelte mich an.

"John, du hast mich gefunden. Und die Schatten, sie haben dich gefunden. Sie wollen mich gehen lassen.", sprach Lily erleichtert mit Tränen in den Augen, als würde sie den Fängen einer uralten Kraft nach unzähligen Jahren endlich entfliehen können.

"Doch bevor sie mich gehen lassen-", unterbrach sie. Plötzlich spürte ich, wie etwas mich packte, mich in die Dunkelheit zog. Ich schrie, kämpfte, aber es war nutzlos. Ich hatte es mit einer Kraft zutun, der ich nichts hätte entgegensetzen können.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich umhüllt von Schatten in einer endlosen Leere. Vor mir ein Spiegel, in dem ich jedoch nicht mich selbst betrachtete. Es war Lily, die mich aus dem Keller des Kinderheims heraus anlächelte, bevor sie sprach.

"Danke."

Und dann verstand ich, was passiert war. Lily war nicht blind. Sie sah lediglich die Schatten, die in der Dunkelheit lebten. Sie hatte mich ihnen geopfert.

Seither bin ich gefangen, in der Dunkelheit, eingesperrt mit den Schatten. Und Lily, sie lebte mein Leben, in meinem Körper.

Ich realisierte, dass ich nun einer der Schatten war, die einst Lily umgaben.

Und so warte ich bereits seit Jahrzehnten darauf, dass die Schatten die Lust an mir verlieren, und sich ein neues Opfer suchen - genau wie sie es einst mit mir und Lily taten.

Ob sie mich je gehen lassen?
Ob ich Lily je wiedersehen werde?

Ich habe so viele Fragen, die sie mir alle beantworten muss.

66: A Treasury Of CreepyPastasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt