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Es war der Tag von Aetherias Ankunft und die ganze Stadt sprach von nichts anderem. In der Nacht zuvor hatte es in Hjartvik besonders viel geschneit, und während ich im Morgengrauen zum Markt ging und den Schlitten hinter mir herzog, knirschte das weiße Puder unter meinen Stiefeln.

Es fiel mir schwer, mein laut klopfendes Herz zu ignorieren. Gegen Mittag sollte das Luftschiff anlegen, über hundert Seraphim würden an Bord sein. Schon ein einziger hätte gereicht, um meine Knie weich werden zu lassen, doch damals war mir das noch nicht bewusst. Ich wusste nur, dass ich Engel sehen würde, und das erfüllte mich mit Ehrfurcht und Aufregung.

»Pass doch auf, du Trampel!«, schrie jemand neben mir. Ich zuckte zusammen. Eine fein gekleidete Dame rempelte mich an und der Korb mit den Eiern, den ich extra getragen hatte aus Angst, er könnte mir vom Schlitten rutschen, fiel mir aus den Händen. Entsetzt sah ich dabei zu, wie er am Boden landete, die Eier herauskullerten und aufplatzten. Das Gelb sickerte in den Schnee.

»Nein, nein, nein!«, flüsterte ich, ging auf die Knie und versuchte zu retten, was zu retten war. Die Frau war längst weitergelaufen und um die nächste Ecke verschwunden. Die Beine meiner Wollstrumpfhose sogen sich mit Wasser voll. Innerhalb kürzester Zeit war der Stoff durchtränkt.

Drei Eier hatten überlebt. Ich versuchte nicht daran zu denken, was mich zuhause dafür erwarten würde. Wenn ich Glück hatte, würde Eldrid mir die entgangenen Einnahmen nur vom Lohn abziehen. Wenn ich Pech hatte ... Ich schüttelte den Gedanken ab und richtete mich wieder auf. Meine Strümpfe waren komplett durchnässt und augenblicklich begann ich zu zittern, doch ich konnte nicht zurück, um mich umzuziehen. Der Markt hatte bereits eröffnet und wenn ich nicht rechtzeitig da war, würde mir zu viel Umsatz entgehen. Also ignorierte ich die Kälte und wickelte die drei letzten Eier in einen Stofflappen, bevor ich mich wieder auf den Weg machte.

Als ich ankam, war die Sonne bereits aufgegangen und es herrschte reges Treiben. Stimmengewirr waberte durch die Luft und ich musste mich durch regelrechte Menschenmassen kämpfen, um zu meinem Platz zu gelangen. Ich war zu spät. Nicht allzu sehr, aber doch genug, dass es mir weitere Einbußen bringen würde, weil viele meiner frühen Kunden ihre Ware inzwischen bereits bei anderen Händlern gekauft hatten. Ich unterdrückte einen Fluch. Ich hatte nicht bedacht, dass die Leute heute wegen der Ankunft des Schiffes früher auf den Beinen sein würden. Der Zwischenfall mit den Eiern hatte mich zusätzlich wertvolle Zeit gekostet. Danach war ich langsamer vorangekommen, da ich inzwischen vor Kälte bibberte. Ich wusste nicht, wie ich es bis zum Mittag in meinen nassen Sachen aushalten sollte. Es hatte minus zehn Grad. Wenn ich Glück hatte, würde das Thermometer in den nächsten Stunden ein wenig höher klettern, es sollte ein sonniger Tag werden, aber sicher würden die Temperaturen unter Null bleiben, wie sie es in Skaldengard fast immer taten.

Ich hoffte nur, ich würde nicht krank werden. Meine Lungenentzündung im letzten Jahr hatte Eldrid einen regelrechten Tobsuchtsanfall beschert und sie hätte mich um ein Haar rausgeworfen.

Ich habe kein Geld, um ränkesüchtige Tellerlecker durchzufüttern, hörte ich sie in meinem Kopf. Entweder, du arbeitest, oder du kannst dir eine neue Bleibe suchen, faule Metze.

Ich schluckte und schüttelte den Gedanken ab. Inzwischen hatte ich meinen Platz erreicht und die Körbe auf dem Schlitten so aufgebaut, dass die Kunden einen guten Überblick über meine Waren hatten. Wir hatten Hühner und Kühe auf dem Hof, ich verkaufte also Milch und Eier, außerdem bauten wir Kartoffeln, Zwiebeln, Rüben und Kohl an.

»Du bist aber spät heute«, riss mich eine vertraute Stimme aus meinen Gedanken. Ich drehte mich zur Seite und blickte in das lächelnde Gesicht von Nevis. Seine Wangen waren rot von der Kälte, ein paar einzelne dunkle Locken lugten unter seiner Wollmütze hervor.

»Hier. Du siehst aus, als hättest du heute noch nichts gegessen.« Er reichte mir einen Apfel und Wärme durchströmte meine Brust; er hatte Recht.

Dankbar nahm ich das Obst entgegen. Ich biss hinein und der Apfel ließ ein lautes Knacken hören. Eine Sekunde später schmeckte ich den süßen Saft auf meiner Zunge. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Wann hatte ich zum letzten Mal etwas gegessen? Es musste fast vierundzwanzig Stunden her sein.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nevis mich besorgt musterte und mir wurde klar, dass ich mich überhaupt nicht bedankt hatte.

»Danke«, mumelte ich ein wenig beschämt und wischte mir mit gefrorenen Fingern etwas Saft vom Kinn.

»Du siehst nicht gut aus«, sagte Nevis. Sein Tonfall und sein Blick waren weich. Er langte in seinen Korb und reichte mir noch einen Apfel, doch ich winkte ab. Er brauchte sie doch selbst. Wenn er alles an mich verschenkte, hätte er selbst nichts zu Mittag. Den rohen Fisch, den er an seinem Marktstand verkaufte, konnte er jedenfalls nicht essen.

»Du weißt, wie man einer Frau Komplimente macht«, scherzte ich, während ich den letzten Rest des Kerngehäuses in meinen Mund schob. Nur den Stiel ließ ich übrig und warf ihn zu Boden.

»Lenk nicht vom Thema ab«, sagte er. »Du weißt genau, was ich meine. Es sieht schlimm aus, Lumi.«

Unwillkürlich fuhr meine Hand zu der geschwollenen Haut über meinem Auge. Sofort zuckte ich zusammen. Die Verletzung war nicht mehr ganz frisch, dennoch pochte der Schmerz bei jeder Berührung.

»Ist nicht mehr so schlimm«, flüsterte ich, schaffte es jedoch nicht, Nevis dabei in die Augen zu sehen. »Es ist schon abgeschwollen und es ist auch nicht mehr ganz blau, langsam wird es schon heller, und ...«

Ich brach ab, als ich doch einen Blick wagte und Nevis' hochgezogene Augenbrauen bemerkte.

Einen Moment lang musterte er mich noch kritisch, dann wurde sein Blick wieder weich. »Du solltest nicht dort bleiben, Lumi«, sagte er sanft. »Es ist nicht normal, wie diese Frau dich behandelt.«

Ich schluckte schwer. Nevis' offensichtliches Mitleid war fast schlimmer als der Schmerz. Ich wollte so vieles erwidern, angefangen bei der Frage, wo ich seiner Meinung nach denn hingehen sollte. Doch wir hatten die Diskussion schon so oft geführt und wir wussten beide, wie es weitergehen würde.

Mir war klar, dass Eldrid mich nicht gut behandelte, aber ich wusste auch, dass es keinen besseren Ort für mich gab. Hjartvik war klein und weit abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich konnte die Stadt nicht einfach verlassen, das würde meinen sicheren Tod bedeuten. Und meine Herrin hatte mir klargemacht, dass sie dafür sorgen würde, dass niemand anderes in Hjartvik mich einstellen würde. Es war also nicht so, dass ich wirklich eine Wahl hatte. Und immerhin hatte ich so einen warmen Schlafplatz und bekam Essen, wenn auch nicht ganz so regelmäßig.

All das wusste Nevis, deswegen zuckte ich nur die Achseln und wandte den Blick ab.

»Ich weiß.«

Er ließ nicht locker und griff nach meiner Hand. Seine war warm. »Ich kann dir vielleicht helfen, weißt du? Du könntest bei mir unterkommen.«

Nun musste ich lachen.

»Bei dir? Du bist süß, Nevis. Und wovon sollten wir leben? Von Luft und Liebe?«

Gekränkt verzog er das Gesicht, aber er wusste natürlich, dass ich Recht hatte. Ich konnte nicht einfach so bei ihm einziehen. Er hatte selbst kaum Platz, verdiente nur wenig und wenn Eldrid ihre Drohung wahr machen würde, könnte ich nicht einmal etwas beitragen.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte ich betont leichtmütig. »Es wird besser werden. Bald habe ich genug angespart, dass ich Hjartvik verlassen kann. Bald reicht es für das Zugticket in den Süden und dann werde ich mir dort unten eine Arbeit suchen. Du kannst mitkommen, wenn du willst.«

Nevis erwiderte nichts. Vielleicht wusste er, dass es eine Lüge war. Eldrid zog mir für Essen und Unterkunft so viel ab, dass es noch sehr lange dauern würde, bis mein Geld reichte.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin