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Es ging so schnell, dass ich kaum verstand, wie mir geschah. In einem Moment lief ich noch neben Nevis, eine Sekunde später landete ich seitlich im Schnee und die gestohlenen Rüben fielen aus meiner Tasche. Mein Rock rutschte nach oben und gab die nackte Haut meiner Oberschenkel frei, das weiße Puder war mit einem Mal überall. In meinem Schoß, in meinen Stiefeln, in meinen Ärmeln. Die Kälte brannte auf der Haut. Zudem war ich mit dem Gesicht am Boden gelandet und hatte mir an etwas spitzem die Lippe aufgerissen. Blut tropfte auf das Weiß unter mir, ich schmeckte Metall auf der Zunge. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Umständlich zog ich meinen Rock über die Beine und versuchte mich aufzurappeln, nur um im nächsten Augenblick am Kragen gepackt und zurück in den Stand gezogen zu werden.

»Schau dich nur an«, keifte Eldrid, bevor sie mich grob von sich stieß. Ich taumelte rückwärts und wäre wieder gefallen, wenn ich nicht gegen Nevis' harten Körper geprallt wäre, der mich mit festem Griff am Arm packte und hielt.

»Wie eine Dirne siehst du aus!« Eldrid spuckte mir vor die Füße und kam einen Schritt näher. »Wo sind deine Strümpfe?«

Ich wusste, was jetzt kommen würde, hob instinktiv die Arme vor mein Gesicht und wich zurück, schmiegte mich in Nevis' schützenden Griff.

»Bitte nicht«, wimmerte ich. Ich wusste nicht, ob ich noch einen Schlag in mein Gesicht ertragen könnte, noch dazu vor all den Leuten, die noch auf der Ebene waren und neugierig zu uns blickten. Mein geschwollenes Auge pochte wieder stärker, meine Unterlippe wollte einfach nicht aufhören zu bluten und die Scham brannte auf meinen Wangen.

»Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du deine Zeit hier oben verschwendest!«, brüllte Eldrid. »Du solltest längst im Stall sein und die Schweine füttern! Stattdessen treibst du dich halbnackt am Waldrand herum. Und bestohlen hast du mich auch noch, nutzlose Metze.«

Sie holte erneut aus und ich duckte mich, dabei wusste ich, dass ich keine Chance haben würde. Ich kniff die Augen zusammen, doch der erwartete Schlag in mein Gesicht blieb aus.

Stattdessen ertönte eine Stimme hinter mir, die viel zu gebieterisch klang und definitiv nicht die von Nevis war.

»Aufhören. Sofort.«

Augenblicklich versteifte ich mich. Ich riss die Augen auf, wand mich aus seinem Griff und drehte mich um. Hinter mir stand der dunkelhaarige Seraph und hielt Eldrids Arm fest. Erschrocken taumelte ich zurück.

»Verzeihung«, presste ich hervor. Ich wusste, dass Menschen keine Engel berühren durften. Konnte meine Lage eigentlich noch schlimmer werden?

Doch er beachtete mich gar nicht. Sein Blick war auf Eldrid gerichtet, pure Verachtung glomm in seinen dunklen Augen.

»Sie ist meine Dienstmagd«, erklärte Eldrid und zog mit einem Ruck ihre Hand aus dem Griff. Sie zwang sich, ruhig zu sprechen, doch ich kannte sie zu gut und konnte hören, wie ihre Stimme vor Wut bebte. Der Engel wusste nicht, was er tat. Wenn er mich beschützen wollte — was ein absurder Gedanke war, aber warum hätte er sich sonst einmischen sollen? —, war ein direkter Streit mit Eldrid die denkbar schlechteste Idee. Sie würde sich einsichtig zeigen, mich zurück auf dem Hof aber windelweich prügeln. Unwillkürlich begann ich zu zittern, was sie bemerkte und mit einem verächtlichen Schnauben quittierte. Dann packte sie mich am Arm und riss mich zu sich. »Sie gehört mir und ich darf mit ihr tun, was ich will. Bitte verzeiht, dass Ihr das mitansehen musstet.«

Sie verneigte sich einmal kurz, drehte sich dann um und stapfte zurück in Richtung Stadt, wobei sie mich mit sich zog. Unbeholfen stolperte ich hinter ihr her, die Sicht noch immer von den Tränen verschleiert. Aus dem Augenwinkel sah ich Nevis, der etwas abseits stand und entsetzt und hilflos zusah. Er mischte sich nicht ein, weil er wusste, dass er mir damit keinen Gefallen tun würde — er hatte es bereits erlebt.

»Du wirst dein blaues Wunder erleben«, zeterte Eldrid auf dem Weg. »Dich werde ich lehren, was es bedeutet, mich zu bestehlen! Und deine Arbeitszeit damit vergeuden, die Ankunft dieses Schiffes zu begaffen, du nutzlose ...«

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Mein Herz klopfte wie verrückt.

Jetzt oder nie, sagte ich mir. Der dunkelhaarige Seraph schüchterte mich wahnsinnig ein, ich schaffte es kaum, ihm in die Augen zu sehen, aber er war bei mir geblieben und hatte versucht mich zu schützen, warum auch immer. Und er war mit Sicherheit noch in der Nähe. Dies war die Chance, auf die ich gehofft hatte, es wäre töricht, sie entgleiten zu lassen. Und so fasste ich all meinen Mut zusammen und riss mich von Eldrid los. Es war leichter als gedacht, denn sie hatte nicht damit gerechnet. Noch nie hatte ich mich gegen sie gestellt. Sie fuhr zu mir herum und öffnete den Mund, das Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrt. Doch ich hörte mir nicht an, was sie zu sagen hatte. Ich rannte zurück, geradewegs auf den Engel zu.

Er stand noch immer am selben Platz, das Gesicht ausdruckslos, während die anderen Seraphim längst verschwunden waren und auch die verbliebenen Menschen sich nun langsam verstreuten. Nur noch vereinzelte Leute warfen mir mitleidige oder neugierige Blicke zu, Nevis stand noch immer stocksteif an derselben Stelle wie zuvor, doch ich hatte nur Augen für den Seraph, den ich nun erreicht hatte.

»Bitte, nehmt mich mit!«, flehte ich. Meine Stimme brach und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, diesmal vor Verzweiflung. »Nehmt mich mit auf euer Schiff. Bitte.«

Einen kurzen Augenblick lang musterte er mich, ohne eine Regung zu zeigen. Dann sagte er mit seiner ruhigen Stimme: »Das geht nicht.«

Eldrid war mir inzwischen nachgelaufen und hatte mich erreicht. Ich hörte sie hinter mir lachen und das war der Moment, in dem etwas in mir brach. Ich fiel vor dem Engel auf die Knie, wieder in den Schnee, und schluchzte hemmungslos. Sie würde mich umbringen, das wusste ich. Nach allem, was ich mir an diesem Tag geleistet hatte — der Ausflug zum Schiff, die gestohlenen Rüben, der schlechte Umsatz und nun auch noch die Tatsache, dass ich sie verlassen wollte —, hätte sie keine Nachsicht mehr. Ich wusste, dass ich ihr nichts bedeutete, dass ich nichts als eine billige Arbeitskraft für sie war, die sie jederzeit ersetzen konnte. Das hatte sie mir mehr als einmal klargemacht und auch, dass sie nicht davor zurückscheuen würde, mich totzuschlagen, wenn sie es für nötig hielt.

Ich würde diese Nacht nicht überleben, wenn ich hier blieb.

»Warum nicht?«, wimmerte ich. »Es arbeiten Menschen auf dem Schiff, das hab ich gehört.«

Der Seraph hielt inne und blickte auf mich hinab.

»Das stimmt«, sagte er, »aber die Stellen sind alle besetzt. Wir brauchen niemanden mehr.« Er wandte sich zum Gehen.

»Sie wird mich töten«, flüsterte ich. »Wenn Ihr jetzt geht, lasst Ihr mich zum Sterben hier.«

Er hielt inne und drehte sich noch einmal zu mir um. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang. Sein Blick war undurchdringlich, doch kurz flackerte etwas darin auf. War es Mitleid?

»Du kommst jetzt sofort zu mir und lässt den Engel in Ruhe«, ertönte Eldrids scharfe Stimme hinter mir. Sie war nähergekommen. Ich zitterte so sehr, dass meine Zähne aufeinanderschlugen und mein Herz schlug so hart in meiner Brust, dass mir übel wurde.

Der Seraph zögerte noch einen kurzen Moment, dann gab er sich einen Ruck.

Er kam einen Schritt zurück und reichte mir die Hand. Überrascht blinzelte ich. Ich hatte noch nie davon gehört, dass ein Engel einem Menschen die Hand gereicht hätte, doch ich überlegte nicht lange und ergriff sie. Sanft zog er mich zurück in den Stand.

»Komm mit «, sagte er. »Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit.«

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt