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„Entschuldige bitte, ich hätte dich vorwarnen müssen", sagte sie immer wieder, während wir Gläser spülten. „Aber ich wollte nicht, dass du noch mehr Angst bekommst, außerdem dachte ich ehrlich gesagt, dass Michael noch Lokalverbot hätte."

„Das wäre nett gewesen", presste ich hervor. „Mich vorzuwarnen. Und wenn er noch Lokalverbot gehabt hätte. Beides." Ich erholte mich nur langsam von dem Schock. Der Wein, den Nova mir ausgegeben hatte, half mir dabei. Offensichtlich sprach nichts dagegen, bei der Arbeit Alkohol zu trinken, und nach dem zweiten Glas fühlte ich mich etwas besser.

„Das hätte nichts geändert", widersprach sie.

Da hatte sie auch wieder recht. Ich seufzte. „Na ja", sagte ich, „das Gute ist: Vor dem Auftritt habe ich jetzt keine Angst mehr."

Nova grinste. „Und die schlimmsten Zuschauer mussten den Saal zum Glück bereits verlassen. Du weißt ja, dass Engel keine sehr hohe Meinung von uns Menschen haben, aber was Michael immer wieder abzieht, geht gar nicht. Zum Glück lässt ihm Cassiel das nicht durchgehen."

„Was ist mit Cassiel?", fragte ich. „Ist er hier der Chef oder sowas?"

Nova lachte. „So ähnlich, ja. Er ist der Oberste der Seraphim, ihr Herrscher, wenn du so willst."

Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke. „Was?", stieß ich hervor.

„Ist das so überraschend?"

Nun, wo ich darüber nachdachte, eigentlich nicht. Es erklärte einiges, zum Beispiel auch die Tatsache, dass es Cassiel war, der als Erster aus dem Schiff gestiegen war und den Bürgermeister begrüßt hatte – und dass er so einfach entscheiden konnte, mich mitzunehmen. Ich wollte Nova noch so viel mehr über ihn fragen, doch ich traute mich nicht. Stattdessen fiel mir etwas anderes ein.

„Michael hat so ein Wort gesagt ... Staubseele, glaube ich. Was bedeutet das?"

Nova schnaubte. „So nennt er uns Menschen. Normalerweise nur, wenn Cassiel es nicht hört. Dass er sich so offen gegen ihn auflehnt, ist neu." Sie runzelte die Stirn.

„Was bedeutet das Wort?"

„Es ist eine abwertende Bezeichnung, Lumi." Nova seufzte. „Es ist ein widerwärtiges Wort, aber du solltest es dir nicht zu Herzen nehmen. Es sagt nichts über dich aus, sondern nur über ihn und seinen Charakter. Staubseele soll verdeutlichen, dass wir wertlos sind, vor allem im Vergleich zu den Engeln. Sterbliche. Es soll die Vergänglichkeit unserer Existenz betonen und darauf anspielen, dass wir irgendwann sowieso zu Staub werden, während sie ... nun ja. Ewig sind. Und in ihren Augen damit etwas Besseres."

So sahen sie uns Menschen also. Natürlich war mir klar gewesen, dass wir ihnen nicht gleichgestellt waren, aber mit einer solch feindseligen Haltung hatte ich nicht gerechnet. Ob Cassiel auch so über mich dachte?

Ich sagte nichts mehr. Stattdessen sah ich Daria dabei zu, wie sie sich auf der Bühne auszog, und stellte erleichtert fest, dass es wirklich nicht so schlimm war, wie befürchtet. Die meiste Zeit über behielt sie den Stoff am Leib, tanzte hin und her, hob immer mal wieder ein Stück ihres Rockes an, sehr zur Freude der Männer im Saal, bis sie kurz vor Ende der halben Stunde die Hüllen schließlich vollständig fallen ließ.

Wirklich nackt war sie nur wenige Minuten lang. Das konnte ich definitiv ertragen, ich hoffte nur, dass Michael das Nachtlokal nicht so schnell wieder betreten durfte.

Hinter der Bar jedenfalls hatten wir unsere Ruhe, was wirklich angenehm war. Wir spülten die Gläser und verteilten den Wein an die Engel, die meisten beachteten uns jedoch nicht weiter. Die anderen Frauen waren im Saal unterwegs, hin und wieder verschwand eine von ihnen mit einem Seraph in einem der Separees.

Nachdem Daria von der Bühne verschwunden war und Lillians Auftritt sich dem Ende neigte, schob Nova mich sanft zur Bar hinaus.

„Du bist gleich dran", sagte sie. „Du solltest dich langsam bereit machen."

Mit klopfendem Herzen ging ich zurück zur Bühne, durch die Tür und die Treppe hinauf. Der Wein hatte zum Glück ein wenig dafür gesorgt, dass die Nervosität nicht mehr ganz so schlimm war, und an die Schuhe hatte ich mich inzwischen auch gewöhnt. Dennoch waren meine Hände schweißnass.

Schließlich verließ Lillian die Bühne und es war so weit.

„Viel Spaß", wisperte sie mir zu, als sie die Treppe hinabhuschte, ihr Kleid fest an den Körper gepresst. Am Treppenabsatz unten schlüpfte sie wieder hinein, dann verschwand sie durch die Tür in den Saal.

Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Dann betrat ich die Bühne.

Von hier oben konnte ich den gesamten Saal überblicken. Auf wackeligen Beinen ging ich bis zur Mitte der Bühne und ließ einmal den Blick schweifen. Nova hinter der Bar nickte mir ermutigend zu und reckte den Daumen in die Höhe, ein paar andere Frauen huschten durch die Gänge und verteilten Getränke. Die Vorhänge zu den Separees waren allesamt zugezogen.

Zwei Seraphim saßen an der Bar, die anderen hatten sich an den Tischen verteilt. Grob überschlagen befanden sich wohl um die achtzig von ihnen im Saal. Wirklich viele.

Und dann traf mein Blick seinen.

Cassiel saß ziemlich weit vorne allein an einem Tisch. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, den rechten Fuß auf dem linken Knie abgelegt. In der Hand hielt er ein Glas Wein. Und er beobachtete mich genau, hielt mich fest mit seinem Blick.

Mein Herz geriet ins Stolpern, doch dann erinnerte ich mich an den Tipp, den Nova mir gegeben hatte: Wenn du zu nervös bist, schließ am Anfang die Augen und mach sie erst wieder auf, wenn du in der Musik angekommen bist.

Und das tat ich.

Ich schloss die Lider und ließ die Musik hinein, ließ sie durch meinen Körper strömen, mich von ihr tragen, und dann bewegte ich mich wie von selbst. Ich wiegte mich in den Klängen, ließ die Hüften kreisen, und als ich die Lider wieder öffnete und Cassiels Blick fand, ergab sich der Rest wie von selbst.

Mir wurde klar, dass ich es wollte. Dass ich gesehen werden wollte, von ihm. Und als ich mit laut klopfendem Herzen die Träger meines Kleides über die Schultern streifte, langsam, einen nach dem anderen, ließ ich ihn dabei nicht aus den Augen. Das Kleid fiel zu Boden und ich konnte sehen, wie er schluckte, als sein Blick sich verdunkelte und er ihn meinen nackten Körper hinab und wieder hinauf wandern ließ. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann nippte er an seinem Wein, ohne dabei jedoch den Blick von mir abzuwenden.

Ein paar der anderen Seraphim johlten, als die Hüllen endlich gefallen waren, doch ich hatte nur Augen für Cassiel. Und ich stellte fest, dass ich es über alle Maßen genoss, dass er für eine halbe Stunde lang nur Augen für mich hatte.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Where stories live. Discover now