dreiundzwanzig

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Mit zitternden Händen gab ich Mar ihr Handy zurück. Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu.

„War sie sehr sauer?", fragte sie während sie es in der Tasche ihres Hoodies verstaute und sich neben mich auf einen der mäßig bequemen Stühle im Gang fallen ließ.

„Nein", erwiderte ich belegt, was der Wahrheit entsprach, „alles ist gut", was ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach.

Es gab nur eine Erklärung für die merkwürdige Ruhe, mit der meine Mutter sich nach meinem Aufenthaltsort und meinen Befinden erkundigt hatte. Es gab nur eine Erklärung warum sie nach so einer Aktion nicht ausflippen würde denn sie flippte weiß Gott bei den kleinsten Kleinigkeiten aus.

Sie machte sich sorgen. Und tief in mir drin, unter der Erleichterung, dass ich mich voll auf Casper konzentrieren konnte fühlte ich mich unglaublich schuldig.

Mar nickte, ich nickte und dann erhob ich mich und klopfte an Cas' Zimmertür.

Seine Mutter öffnete, lächelte mir halbherzig zu und verließ den Raum mit meinem Eintreten.

Die Stimmung hier drin war komisch. Jedes Detail von Casper, jedes Detail unserer Beziehung schien sich mit keinem anderen Wort mehr beschreiben zu lassen, zumindest nicht in den letzten Tagen.

Es gab mehr Fragen als Antworten, Fragen die sich uns Beiden stellten und Fragen, auf die ich früher eine Antwort gewusst hatte, die jetzt provokativ im Raum standen wie gigantische Fragezeichen und mich nicht vorbei ließen. Ich wollte nichts mehr, als einfach an ihnen vorbeizulaufen, nichts auf der Welt, aber irgendetwas hielt mich zurück.

„Hey", sagte ich.

„Grace", erwiderte Casper und sah von einer Tüte Weingummis auf.

Unwillkürlich lächelte ich, auch wenn es ein bittersüßes Lächeln war, eins der Art die einem in Erinnerung rief, wie man einst gelächelt hatte.

Breiter. Es hatte süßer geschmeckt.

Ich hoffte, das war etwas, das nur ich bemerken konnte. Oh bitte, Casper sollte es nicht merken.

Er klopfte auf seine Bettkante.

Ich nahm Platz.

„Na."

„Na?"

Er hielt mir die Tüte hin. Ich nahm mir ein Weingummi und steckte es in den Mund.

Er sah mir zu wie ich kaute.

Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen ob er das öfter getan hatte.

Ob ich es nicht gemerkt hatte, weil ich in seine Augen gesehen hatte.

Seine Augen waren so schön. So schön, dass es wehtat. Aber irgendetwas verbat mir, sie anzusehen.

Die Augen waren das Fenster zur Seele. Meine Seele war das letzte, was ich Casper jetzt zeigen wollte.

Er nahm sich ebenfalls ein Weingummi.

„Und jetzt?", fragte ich, in dem Versuch Frage für Frage zu klären, aber schon die erste machte mir Angst.

„Ich liebe dich"

Und dann sah ich ihn doch an. Und ich sah, dass er es ernst meinte. Und ich wusste, dass ich das gleiche fühlte. Aber ich fühlte auch, dass das nicht reichte.

Natürlich liebte ich ihn, so lächerlich und kindisch und abgöttisch wie ich noch nie zu vor irgendjemanden geliebt hatte, aber zu glauben, dass könnte reichen war ebenso lächerlich und kindisch und der Gedanke daran schmerzte.

„Und jetzt?", wiederholte ich mit monotoner Stimme.

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Autsch."

Ich wagte nicht, ihn anzusehen, also scannte ich stattdessen das Bettlaken mit meinen Augen.

Da war die Tüte mit den Weingummis, seine Bettdecke, seine Hand, die sich gegensätzlich zu dem für ihn typischen Charme in seiner Stimme in die Decke verkrampft hatte.

Ich legte meine Eigene auf die Seine.

Er zuckte kaum merklich zusammen und entspannte ertappt die Finger.

Ich drückte etwas zu und auch ohne meine Augen von meinen in blassem Rosa lackierten Nägeln abzuwenden merkte ich, wie er sich etwas zurücklehnte bis seine Schultern an die Zimmerwand stießen; merkte wie er seinen Kopf ein bisschen sinken ließ.

„Antworte", flüsterte ich und ich wusste weder genau, ob ich mich verzweifelt anhörte, oder herrisch oder tonlos, noch was ich bevorzugte.

„Das war meine Antwort", erwiderte er fast trotzig.

Ich stieß einen zittrigen Atemzug aus.

Er tat es mir nach.

„Was ist jetzt, meine ich. Mit dir."

Ganz langsam entzog er sich meiner Hand. Rutschte an seine Bettkante und ließ sich in seinen Rollstuhl gleiten. Umrundete das Bett, ließ seine Finger über das Gestell gleiten, bis er sich hinter mir und damit vor seinem Nachtisch befand.

Zog die Schublade auf.

Holte eine Mappe heraus und reichte sie mir.

Einen Augenblick lang begutachtete ich sie, zögerte den Moment heraus, sie zu öffnen.

Einen Moment, in dem mir Gedanken wie Wellen durch den Kopf schwappten, die Situation hin und her rissen, bedrohlich gegen das Rationale peitschten und mich für diesen kurzen Moment zu ertrinken drohten.

Was war, wenn Casper sterben würde? Was, wenn er deswegen zusammengebrochen war?

Was würde ich tun?

Mit einer tröstlichen Sänfte reichte er über meine Schultern, streifte meinen Kiefer mit seinem Daumen und öffnete die Mappe auf meinem Schoß.

Ich las den ersten Satz, Cas schmiegte sein Gesicht am meine Wange.

Ich überflog den nächsten Absatz, spürte seine rauen Lippen an meinem Mundwinkel.

Fieberhaft suchten meine Augen nach etwas, das meine Aufmerksamkeit einfangen könnte. Irgendetwas, das mir Erklärungen liefern würde.

Irgendetwas.

Caspers Hand streifte meinen Arm, legte sich um meine Schulter, als wollte er mich halten. Als fürchtete er, ich könnte fallen.

Nervös schob meine Hand das erste Blass zur Seite, mein Blick streifte die Seite bis sie wie automatisch an dem letzten Satz hängenblieben, an Worten, die ich sehr wohl verstand.

Worten, die sich wie ein Eisberg in meinen Verstand schraubten, so massiv und eiskalt und unumgänglich.

Bipolare Störung.

Und während ich diese Worte noch einmal las, und noch einmal, spürte ich Caspers Tränen an meiner Wange, kalt und klagend und viel zu real.

MauerblumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt