zwei

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Ich wusste, dass ich ihn wiedersehen wollte. Und ich wusste auch, dass ich etwas Besonderes tun wollte, um ihn wiederzusehen.

Was ich nicht wusste, war, wie ich ihn wiedersehen wollte und was für etwas Besonderes ich tun wollte.


Am Morgen, als ich aufwachte (man hatte mich ausschlafen lassen und so war ich erst um 12:30 Uhr aufgestanden) saß meine Mutter mutterseelenallein an dem kleinen Tischchen vor dem Fenster und trank Traubensaft aus einem viel zu kleinen Glas, das sie sich alle paar Minuten nachfüllen musste.

»Mama?«, murmelte ich, während ich mich aufsetzte, mir die Haare aus dem Gesicht strich und mir die Bettdecke von den Beinen strampelte.

Mit meiner Mutter war es so eine Sache. Sie war ein liebenswerter Mensch, allerdings neigte sie dazu, unendlich lange, immer gleiche Moralpredigten zu halten. Immer und immer wieder.

Außerdem nahm sie es mir übel, dass ich oft erst morgens nachhause kam, Alkohol trank, soviel ich konnte und mich ihrer Meinung nach mit unsympathischen, zwielichtigen Gestalten rumtrieb.

Letzteres stimmte absolut nicht. Die Jungen, mit denen ich ausging, oder etwas trank waren weder unsympathisch noch zwielichtig. Die meisten waren einfach merkwürdig. Aber das war es, was mich anzog. Vielleicht war ich selbst nicht ganz dicht, oder ich fühlte mich besser, wenn ich mich mit ihnen verglich.

Aber die meisten hatte ich wirklich gemocht. Egal ob sie Geister sahen, über 3000 verschiedene Briefmarken zuhause hatten oder seit Jahren nie ein Wort sprachen.

Nicht, dass das irgendetwas zur Sache tat.

Für meine Mutter waren solche Leute unsympathisch und zwielichtig, und seitdem ich mich mit ihnen traf, war ich nicht mehr Gracie.

Seit ich zum ersten Mal 16 geworden war, war ich Grace.

»Grace«, sagte sie, stellte das Glas auf die Tischplatte und erhob sich.

»Du hättest mich wecken können, Mama«, schnaubte ich, obwohl ich ihr das wahrscheinlich übel genommen hätte.

»Grace, ich hoffe du weißt, dass du einen Fehler gemacht hast.«

Und dann wusste ich, was kam. Wenn meine Mutter mir einen Vortrag hielt, ging sie immer gleich vor. Erst hoffte sie, dass ich meinen Fehler einsah. Dann stellte sie klar, dass sie meinen Fehler sehr wohl sah, dann kamen die Argumente, die aufzeigten, warum ich mich unbedingt aufraffen und etwas aus meinem Leben machen sollte. Und am Ende meinte sie es nie böse.

»Grace, daran ist nur dein schlechter Umgang schuld. Auch wenn du erst 17 bist, kannst du dir nicht erlauben, dein Leben in den Dreck zu schmeißen. Du bist noch so jung, Grace. Mit 17 eine Alkoholvergiftung, das ist ein starkes Stück. Außerdem wirkt sich Alkohol stark auf deinen Körper aus, weißt du wie viele Gehirnzellen davon abgetötet werden?-«

»Das ist doch alles bloß ein Gerücht, Mama!«

»- Außerdem kannst du nicht dauernd mit diesen zwielichtigen Jungs ausgehen. Die könnten dir Was-weiß-ich-was antun. Ich will nicht, dass du dich mit solchen Leuten abgibst, Grace. Glaub mir, ich will nur dein Bestes. Du darfst heute wieder nachhause kommen, wenn wir dich ein bisschen schonen und du erst einmal auf Alkohol verzichtest.«

Ihr Blick war weicher geworden. Sie stand neben meinem Bett und sah aus als wollte sie sich jeden Moment auf die Bettkante setzen. Tat es dann aber doch nicht.

»Ja, Mama. Ich möchte jetzt gehen.«

Ich zog mir einen Bademantel über und schüttelte die Haare zurecht.

MauerblumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt