PACKEN

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NATHANS POV


Weißt du noch, wie wir früher immer Weihnachten und Neujahr zusammen gefeiert haben? Es waren die schönsten Feiertage bei uns Zuhause. Alle, wirklich alle waren in einer ausgelassenen Stimmung und wow, es fühlte sich so an, als hätten wir uns alle geliebt. So wie eine richtige Familie. Das nervigste allerdings waren die Kirchengänge, Gott, wie ich die gehasst habe. Aber ich hätte selbst die genießen sollen, denn da waren die letzten glücklichen Momente unserer verbundenen Familie. -gesendet um 14:34 Uhr [fehlgeschlagen]


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Nathan: Paul? Es tut mir leid

Nathan: Wieso gehst du nicht ans Telefon? Ich habe dich schon mehrere Male angerufen

Nathan: Ist alles okay bei dir?

Nathan: Komme bitte so schnell wie möglich nach Hause, ich muss mit dir etwas Wichtiges besprechen.


Frustriert fuhr ich mir durch meine Haare. Wie habe ich es so weit kommen lassen? Wieso dachte ich, es wäre richtig zu sagen, dass wir eine rein professionelle Beziehung zueinander haben sollten. Dabei habe ich nicht nur mich, sondern auch womöglich Paul verletzt. Jeder normale Mensch hätte seine Gefühle und Intentionen richtig kommuniziert und nicht die Friendzone ins Spiel gebracht.

Da ich nicht wusste was ich sonst machen sollte, stellte ich mein Handy auf laut und suchte meine Reisetaschen. Mit einem neuen Plan im Kopf, lief ich zuerst in mein Zimmer und holte mir eine Jogginghose, Unterwäsche und einen oversized Pulli aus dem Kleiderschrank heraus. Anschließend ging ich ins Badezimmer und machte mich fertig, natürlich nicht ohne mir Sorgen um Paul zu machen. Klar machte ich mir Sorgen, da es schließlich meine Schuld war, dass er wahrscheinlich in einer unbekannten Stadt herumirrte.

Tief in Gedanken versunken, stieg ich mit nassen Haaren aus der Dusche und machte mich fertig. Frisch angezogen, lief geradewegs auf das Bett zu, um uns beide auf meinen Plan vorzubereiten. Unter dem Bett befanden sich neben Umzugskartons auch meine Koffer und Reisetaschen. Nach kurzem Überlegen zog ich zwei Reisetaschen heraus und warf sie auf das Bett. Koffer wären bei dieser spontanen Reise überflüssig und unnötig, da wir wahrscheinlich nur wenige Tage dort verbringen würden.

Nach einer halben Ewigkeit habe ich alle notwendigen Kleiderstücke aussortiert und ordentlich in die großen Reisetaschen gelegt. Mit unter der Kleidung waren die neu gekauften Teile, die wir in dem Einkaufszentrum gekauft haben. Sofort kamen die Erinnerungen wieder hoch und wie Paul mich verteidigt und sich um mich gekümmert hat. Da schienen wir beide noch sorglos was Gefühle betraf und wussten nicht, was auf uns noch zukommen würde.

„Was machst du da?", kam es auf einmal hinter mir. Ich zuckte so sehr zusammen, dass mir der Kulturbeutel aus der Hand fiel und ich mir ein lautes Schreien unterdrücken musste. Mit großen Augen wandte ich mich zur Tür und sah, wie Paul sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt hat.

Seine Augen waren leicht zusammengekniffen und spiegelten Misstrauen und Verwirrung wider. An seiner Stelle wäre ich es auch gewesen, denn wenn man wütend zurück zur Wohnung kommen würde und überall aus dem Nichts Reisegepäck vorfinden würde, wäre ich auch auf dumme Gedanken gekommen. Bevor ich ihm antworten konnte, kam er mir bissig zuvor.

„Ich hätte meine Sachen auch selber packen können. Habe nicht erwartet, dass du mich so schnell loshaben wolltest", meinte er herabblassend und zog seine Augenbrauen wütend zusammen.

Zuerst verstand ich nicht was er meinte, doch dann bemerkte ich, dass es so aussah als würde ich ihn aus der Wohnung schmeißen. Okay, das ergab sogar Sinn. Mit schnellen Schritten war er schon bei mir und nahm tatsächlich die Reisetaschen in die Hand. Bevor er aber wieder den Raum verlassen konnte, rief ich nach ihm und sah, wie er mit seinem Rücken zu mir stoppte. Ich seufzte schwer und erschöpft fuhr ich mir über mein Gesicht. Kommunikation war wirklich nicht unsere Stärke.

Traurig lächelnd schüttelte ich meinen Kopf: „Nein, ich packe Sachen für uns beide ein. Wenn es dir nichts ausmacht, werden wir beide über Neujahr weg sein. Es wäre in irgendeiner Weise auch unser Abschied, da du danach endgültig gehen würdest. Deine Genesungsperiode sollte jetzt vorbei sein und ich habe auch mit meinem Chef darüber geredet. Er ist einverstanden."

Nachdem diese Information auch endlich oben bei ihm angekommen ist, nickte er nur und legte die Taschen wieder zurück auf das Bett. Ich schluckte schwer und ignorierte das Stechen in meiner Brust, nachdem er so lustlos geantwortet hatte. Eine Frage lag mir auf der Zunge, jedoch hatte ich ein bisschen Bammel, dass alles wieder nach hinten losgehen würde.

„Wo warst du eigentlich?", rief ich ihm hinterher und überwand meine Angst, von ihm eine negative Reaktion zu spüren zu bekommen. Sein Temperament kam in Stößen und ich konnte seine Emotionen nie richtig einschätzen. Bis heute schien er ein ungelöstes Rätsel zu sein.

„Musste meine Wut irgendwo aus- und verdampfen lassen", kam es gedämpft aus der Küche. Wenigstens war es eine zivilisierte Antwort und ich konnte mich glücklich schätzen, dass er diese Emotion nicht an mir ablassen musste.

„Ich hoffe nicht, dass du die Wut an jemanden rausgelassen hast!", kommentierte ich und fragte mich selber, wo der neugewonnene Übermut herkam.

Doch anscheinend lag ich sehr richtig, denn kurz darauf hörte ich Geschirr scheppern, worauf ich erneut aufzuckte. Ich legte meine Hand über mein Herz und versuchte mir den Schmerz wegzureiben.

Ohne mir weitere Gedanken zu machen, packte ich die Taschen fertig und hoffte insgeheim, dass Pauls Opfer keine bleibenden Schäden haben würde. Da die Fahrt lange dauern würde, legte ich uns beiden noch zwei zusätzliche Pullis für die Fahrt heraus.

Ich nahm die Taschen und verließ das Schlafzimmer. Im Flur legte ich meine Autoschlüssel und die Taschen bereit, inklusive einen Rucksack voll mit Proviant für die 8-stündige Fahrt. Danach ging ich in die Küche und sah, wie Paul vergeblich versuchte die Scherben einer verlorenen Tasse einzusammeln. Nochmals aufseufzend holte einen Kehrbesen und fegte grob über die Küchenfliesen. Dabei hörte man nur die Scherben die über den Boden schabten.

„Scheiße!", fluchte Paul plötzlich. Als ich den Grund für den Aufschrei sah, konnte ich nur mit meinem Kopf schütteln. Ich kehrte den Rest weg und brachte es zum Mülleimer.

Kurz darauf befanden wir uns im Bad und ich entfernte ihm vorsichtig eine Scherbe mit meiner Pinzette. Anschließend desinfizierte ich die Wunde und klebte ihm ein Pflaster auf. Seine Reaktionen schienen so, als würde er eine Operation ohne Narkose durchgehen müssen. Wie er jahrelang im Militär gedient hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.

„Du solltest besser auf dich aufpassen", murmelte ich und packte den Erste-Hilfe-Kasten wieder weg. Nach kurzem Überlegen entschloss ich mich aber doch, das kleine Päckchen mitzunehmen. Man weiß bei dem Herrn ja nie...

Nach kurzer Zeit befanden wir uns endlich auf der Autobahn Richtung Norden, Ziel: Zandvoort. Von der unangenehmen Stille im Auto redeten wir nicht. 




Wie soll es zwischen den beiden hoffnungslosen Fällen nur weitergehen?

- überarbeitet am 30.09.2021

Nathan |  ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt