Auch das geht vorüber (KG)

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Auch das geht vorüber

In einem großen Land weit jenseits des Meeres lebte einst ein mächtiger König. In den langen Jahren seiner Regierung, verwandelte sich das ehemals arme Land in ein blühendes Reich.

In den Straßen der Dörfer und Städte herrschte lebhafte Geschäftigkeit. Zufriedene, gesunde Menschen gingen ihrer Arbeit nach und genossen ihr Leben. Die Städte und Häuser strahlten Geborgenheit aus und ihre üppigen Gärten waren voller Früchte und großer Bäume, in deren Schatten die Menschen ruhten und ihre Feste feierten.

Und so kam es, dass man den König mehr und mehr als einen großen Herrscher und weisen Führer verehrte. Aber der König selbst wurde immer unzufriedener. Voller Unruhe erledigte er jetzt seine Pflichten und immer öfter schweiften seine Gedanken ab oder er verirrte sich im Labyrinth seiner Gefühle.

Er schwankte zwischen zufriedener Geschäftigkeit und verzweifelter Sorge um die Zukunft, ohne dass er hätte sagen können, was diese widersprüchlichen Gefühle auslöste. All seine Macht konnte nicht verhindern, dass er seinen Gefühlsschwankungen hilflos ausgesetzt war. Er begann sich vor Krankheit und Einsamkeit zu fürchten und Gedanken an den Tod ließen ihn nachts nicht mehr schlafen. Und war er an manchen Tagen glücklich und von einer Aufgabe erfüllt, dauerte es nicht lange und seine Gefühle schlugen wieder um. Er hatte einfach keine Kontrolle über sie.

Schließlich rief er die weisesten Männer und Frauen seines Landes zusammen.

“Hört,” sagte er, “ich suche nach einer Medizin, die mich an die Lebenslust erinnert, wenn ich traurig bin und die Welt ohne Glanz und Musik ist. Und gleichzeitig soll sie bewirken, dass ich mich an Vergänglichkeit und Tod erinnere, wenn das Leben am schönsten ist. Ich will nicht mehr länger Spielball meiner Gefühle sein. Findet den Schlüssel, der mich gelassen und ruhig macht.”

Die Weisen berieten sich viele Tage und Nächte, doch sie fanden kein Mittel, keine Arznei, keine Weisheit, die dem Wunsch des Königs gerecht werden konnte.

Schließlich schickten sie einen Boten zu einem heiligen Einsiedler in die Berge. Wer wenn nicht er, konnte vielleicht doch noch eine Lösung finden. Einige Tage später kehrte der Bote zurück. Er übergab dem König einen schlichten, einfachen Ring mit einem großen Glasstein in der Mitte. Der Weise ließ dem König ausrichten:

“Unter diesem Glasstein liegt die Antwort verborgen; doch widerstehe der Versuchung, sie jetzt schon lesen zu wollen. Du darfst erst dann unter den Stein schauen, wenn alles verloren scheint und du absolut keinen Ausweg mehr weißt. Erst wenn deine Verwirrung total ist, dein Schmerz und deine Verzweiflung unerträglich und du selbst völlig hilflos bist, dann öffne den Ring. Erst dann, und nur dann, wirst du verstehen.”

Und so seltsam es jedermann erschien, der König gab sich damit zufrieden und hielt sich trotz seiner Neugierde und obwohl er sich oft verzweifelt fühlte, an die Anweisung des Einsiedlers.

Manchmal glaubte er, nun sei der Augenblick gekommen, der die Bedingungen des Weisen erfüllte, doch irgendwie fand er jedesmal einen Ausweg und die Botschaft des Weisen blieb unter dem Schmuckstein verborgen.

Eines Tages brach ein schon lange schwelender Streit mit einem mächtigen Nachbarland offen aus. Der Angriff kam so überraschend, dass jede Verteidigung zwecklos schien und so flüchtete der König mit seiner Familie ohne etwas retten zu können.

Von nun an waren sie Verfolgte. Oft gerieten sie in aussichtlose Situationen und oft, sehr oft, glaubte der König unter den Stein an seinem Finger schauen zu müssen. Aber dann ließ er es doch bleiben.

Die Strapazen der Flucht zwangen ihn seine Familie zurück zu lassen. Hunger und Krankheiten wurden zu ihren ständigen Begleitern und rafften die meisten Soldaten dahin. Die Lage wurde immer aussichtloser. Schließlich flüchteten die letzten Getreuen mit dem König in die Berge. Sie schleppten sich nur noch mühsam vorwärts, als sie plötzlich das Triumphgeheul ihrer Feinde direkt hinter sich hörten. Mit letzter Kraft kletterte der König über einen Steilhang und zwängte sich in eine enge Schlucht. Fast glaubte er den heißen Atem seiner Feinde im Nacken zu spüren. Seine Angst wurde unerträglich. Und dann stand er plötzlich am Rande eines tiefen Abgrundes. Vor ihm bodenlose Tiefe, rechts und links steile Felswände und hinter ihm der Feind.

Jetzt war der Augenblick gekommen. Dies war das Ende; er hatte absolut keine Wahl mehr. Verzweifelt klappte er den Ring auf und las: “Auch das geht vorüber!”

Kaum hatte er die Botschaft gelesen, wurde er plötzlich ganz ruhig. Aufmerksam sah er sich um und entdeckte einen schmalen Spalt im Felsen. Einen Augenblick später hatte er sich in den Spalt gezwängt. Keinen Moment zu früh, denn schon stoben seine Verfolger heran. Angesichts der steilen Wände und der tiefen Schlucht vor ihnen, entschieden sie, dass der König wohl in den Abgrund gesprungen sein musste und endgültig besiegt war. Unter wildem Freudengeschrei galoppierten sie davon.

Der König aber machte sich auf den Weg, sein zersprengtes Heer und seine zerstreuten Anhänger wieder um sich zu sammeln.

Und das Glück war auf seiner Seite. In einem nächtlichen Überraschungsangriff eroberte er sein Land zurück und zog unter dem Jubel seines Volkes wieder in den Palast ein.

Ausgelassen feierten die Leute seine Rückkehr. Durch die Straßen zogen tanzende, fahnenschwingende Menschen. Sie sangen Loblieder auf ihren König und brannten ihm zu Ehren riesige Feuerwerke ab.

Überglücklich beobachtete der König sein feierndes Volk. Sein Herz schien vor Glück und Freude fast zu zerspringen. Da fiel sein Blick auf den Ring. “Auch das geht vorüber!” dachte er. Und augenblicklich fühlte er eine tiefe Ruhe in sich aufsteigen. Und während seine Augen zu den fernen Bergen schweiften, überzog ein nachdenkliches Lächeln sein Gesicht.

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LG Lauriefea

Verborgener WaldWhere stories live. Discover now