Silvester

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~Gwendolin~

Eine perfekte, winzige Luftblase kämpfte sich einen Weg nach oben durch den Sekt. An ihrem Rand brach sich das Licht des dahinter explodierenden Feuerwerks und erzeugte einen tollen Schein.

Der Sekt war natürlich in einem Glas und das Glas wurde gerade von meiner Mutter in die Höhe gehalten, um mit den anderen anzustoßen.

Ich hielt kein Glas in der Hand. Das war aber auch besser so, da ich erstens: keinem Alkohol trank und zweitens: ich gerade von jemandem angerempelt wurde.

Kein Wunder. Die Straße vor unserem kleinen Vorstadthaus war voll mit Leuten. Und ich hatte das große Glück am Rand von unserer und der Gruppe auf der anderen Straßenseite zu stehen.

Gerade war einer der Momente, in denen die Zeit stehenbleibt und mein Aufmerksamkeitsradius sich auf ein einziges Detail zusammenzieht. In diesem Fall die Luftblase.
Da hat sie aber Glück gehabt. Jetzt steckt sie für immer in meinem Gedächtnis.

Sowas passiert mir schon seit einigen Jahren. In Stresssituationen oder wenn etwas sehr plötzlich geschieht, oder ich mich erschrecke, ist es, als ob mir mein Gehirn eine kurze Verschnaufpause gibt, um mich wieder zu sammeln.

Als mein Kopf dann endlich beschließt, dass die Zeit doch nicht für ewig stehen bleiben kann, ist der Typ mit dem Kapuzenpulli auch schon um die nächste Gruppe verschwunden. Ich hätte sowiso nichts gesagt, aber so ein winziges bisschen bin ich schon sauer auf mich, weil ich jetzt nicht weiß, wer das war.

Ungefähr eine halbe Stunde stehen wir noch auf der Straße und bewundern das Feuerwerk, aber danach löst sich unsere Familie langsam auf. Die enfernteren Verwandten steigen in ihre Autos und machen sich auf den Weg nach Hause.

Das war bei uns schon immer so. Ein Familienessen, Feuerwerk und dann Schluss. Und die ganze Zeit werde ich entweder gefragt, wie denn die Schule so ist, oder mit Smaltalk überschüttet.

Unauffällig schleiche ich mich wieder rein und verkrieche mich in meinem Zimmer. Unser Haus hat zwei Etagen und mein Zimmer liegt zum Glück über der Küche im zweiten Stock von der Straße abgewandt.

Das bedeutet, das ich zum Fenster rausschauen kann und erstmal unserem Garten, dann das Feld dahinter und zum Schluss den Wald sehe.

„GWEEENNN!" ,werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Kurz zucke ich zusammen.

„Ich bin hier!", rufe ich in Richtung Zimmertür.

„Gehst du schon ins Bett?", fragt meine Mutter etwas schleppend, als sie den Türrahmen erfolgreich in einen Ich-muss-mich-festhalten-um-nicht-umzufallen-griff genommen hat.
Das war wohl ein bisschen zu viel Alkohol.

„Ich glaub schon. Wir sollten jetzt alle ins Bettchen schlüpfen. Es ist ja schon total spät", versuche ich sie unterschwellig darauf hinzuweisen, dass das auch das beste für sie wäre.

Anscheinend hat es funktioniert, denn sie lässt den Türrahmen Türrahmen sein und läuft, etwas schwankend, mit der Wand als Stütze, zum Schlafzimmer meiner Eltern am Ende des Flurs.

Natürlich nicht, ohne noch ein „Schlaf schön" zu nuscheln.

Ich mache sie lieber nicht darauf aufmerksam, dass sie sich nicht die Zähne geputzt hat und gehe mich stattdessen selbst fertig machen.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer zurück, treffe ich meinen Vater, der mir noch kurz zulächelt und dann auch im Bad verschwindet.

Endlich bin ich allein mit meinen Gedanken. Ich lege mich ins Bett und gehe nochmal den Abend durch. Dabei fällt mir auf, dass mir ein paar Dinge nicht mehr einfallen.

Wann bin ich eigentlich rausgegangen? Wann hat das Feuerwerk begonnen? Wann sind Tante Andrea und Onkel Thomas gekommen? Was hab ich auf die eklige Anmache von dem fremden Typen auf der Straße erwiedert?

Wenigstens das sollte ich doch wissen. Immerhin ist es ja nicht alltäglich, dass mir fremde Typen ein „Ey, lust auf ne feuchte Nacht" an den Kopf werfen!

Beim Gedanken daran muss ich mich unwillkürlich schütteln. Aber wie stark ich auch versuche mich zu erinnern, was danach passiert ist... ich habe keine Ahnung mehr.

Wirklich komisch.
Um heute wenigstens noch ein wenig Schlaf zu bekommen, verdränge ich aber meine fehlenden Erinnerungen und kuschel mich ganz tief in mein Kissen.

normal? schwachsinn!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt