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"Schau mal Maurice, sind das da Alina und Erik? Hey, Al, Erik! Schön dass ihr gekommen seid!"

Ich lächelte, als ich meine alten Freunde nach so langer Zeit einmal wiedersah. Beinahe fünf Jahre waren vergangen und sie hatten sich so verändert, aber erkennen tat ich sie trotzdem noch sofort, als wäre tatsächlich kein einziger Tag vergangen...

"Hi Maurice, hey Micha! Wie geht es euch? Das häusliche Glück scheint euch ja zu bekommen!" Alina kicherte schelmisch, als Micha sofort seinen Oberkörper durch das Karohemd hindurch abtastete und nach den zusätzlichen Kilos suchte, die die junge Frau da so spöttisch erwähnt hatte. Dabei veralberte sie ihn nur! Er war rank und schlank und ihre ironische Ader war einfach ausgeprägter denn je.

"Maurice mag mich so wie ich bin, Fett hin oder Fett her!", gab Micha schließlich empört zurück und plusterte sich wie ein stolzer Hahn vor uns auf, was mich zum Schmunzeln brachte. Mein Freund, der unangefochtene König der Selbstüberschätzung! Aber was wollte ich machen, ich liebte ihn und es glich sich mit meiner noch immer ab und zu durchblitzenden Schüchternheit aus! Zufrieden und doch etwas melancholisch schmiegte ich mich an meinen Großen.

"Ihr habt nicht zufällig Oliver auf dem Weg gesehen, oder?", fragte Micha, aber beide Neuankömmlinge schüttelten ihre Köpfe. "Nein, aber er wird schon noch kommen! Er hat es versprochen und außerdem ist es ja Manuel zuliebe!" Alina seufzte, vergrub ihre Hände in den Hosentaschen und schaute in den leuchtend blauen Himmel hinauf. Ich folgte ihrem Blick. Hoffentlich war er damals sicher dort angekommen und konnte uns jetzt von diesem besseren Ort aus sehen... Genau heute war sein zehnter Todestag. Der zwölfte September. Der graue Tag, an dem vor all den Jahren mein Herz gebrochen war. Ab und zu träumte ich noch nachts von den Bildern und wachte jedes Mal bereuend und tieftraurig aus ihnen auf. Ich hätte etwas für ihn tun können, da war ich mir mittlerweile totsicher. Nur half es jetzt nichts mehr...

"Maurice? Alles gut?" Micha legte mir fürsorglich eine Hand an mein Kinn, um mich anschauen zu können. Ich nickte kurz und umarmte ihn dann. "Alles gut. Ist nur... die Erinnerungen..."

"Schaut mal, wer da gerade kommt!"

Ein kleiner VW-Bus parkte auf der Kiesfläche nicht weit entfernt von uns und Olli sprang lässig aus dem Fahrersitz. Er sah gut aus, musste wohl echt erfolgreich mit seiner Firma sein! Doch auf dem Weg zu uns setzte er seine Sonnenbrille ab und bemühte sich um die passende Atmosphäre. "Hi, tschuldigung dass ich so spät dran bin. Wollen wir?"

Kurz darauf strebten wir auch schon im Gänsemarsch den eng gewundenen Pfad entlang, den Friedhofshügel hinauf zu Manus Grab. Micha und ich waren schon ein wenig öfter hier gewesen, die anderen wahrscheinlich nur ein einziges Mal kurz nach der Bestattung. Da hatten nämlich auf den Wunsch seiner Mutter nur ganz nahe Familienmitglieder teilnehmen dürfen. Wir fünf waren außen vor geblieben und hatten uns erst am nächsten Tag von unserem Kumpel verabschieden dürfen...

Bis heute wussten wir nicht wirklich, was damals genau geschehen war. Vielleicht wusste es niemand, außer Manu selbst. Was wir erfahren hatten war, dass er eine Art Anfall gehabt haben musste, der unbemerkt geblieben war. Ein Gegenmittel hatte er nicht griffbereit gehabt und deshalb war er erstickt. Nur, ein Teil von mir wollte nicht ganz daran glauben, dass wir es nicht hätten verhindern können! Unser Kumpel war stets sehr verschlossen gewesen, zwar nett und liebenswürdig, aber auch ziemlich alleine mit seinen Problemen und Geheimnissen. Ich hatte gehofft, ihn vielleicht besser kennenlernen zu können, um ihm zu helfen, aber ohne Erfolg. Er hatte sich auch mir gegenüber kaum geöffnet. Wenn ich einen zweiten Versuch erhalten würde, hätte ich so vieles anders gemacht als damals. Vielleicht hätte ich mit meinem jetzigen Wissen echt etwas ändern können! Aber das war dann leider doch unmöglich...

Wir waren angekommen und ich löste mich langsam von Micha. Hinter meinem Rücken zauberte ich einen kleinen Strauß Blumen hervor, die ich zögerlich in die Vase neben dem schlichten Grabstein stellte und liebevoll zurecht arrangierte. Auch die anderen hatten kleine Geschenke mitgebracht, die sie mit ein paar wenigen Worten dazulegten. Dann standen wir noch zwei Minuten schweigend beisammen und blinzelten in den angenehm warmen, mit Vogelgezwitscher gefüllten Morgen. Hoffentlich hatte Manu gewusst, dass er auch hier geliebt worden war und wir ihn vermissten...

Dann traten wir nacheinander noch einmal vor, legten kurz unsere Finger auf den kalten, geschliffenen Stein und verabschiedeten uns von ihm. In zehn Jahren würden wir uns hier wieder treffen, so war es jedenfalls geplant. Und wenn ich nicht von meiner Arbeit in ein anderes Bundesland verlegt wurde, würde ich versuchen, mindestens alle zwei Todestage vorbeizukommen. Auch wenn Micha darüber mal den Kopf geschüttelt hatte.

"Lasst uns den Nachmittag noch zusammen verbringen, okay? Manu und den alten Zeiten zuliebe!", schlug Alina auf dem Rückweg zu unseren Autos vor. Einstimmig entschieden wir uns dafür, setzten uns in Ollis geräumigen Wagen und beschlossen, in den Park zu fahren, in den wir damals noch zu sechst gegangen waren, um dem Neuen die Gegend zu zeigen. Das war ein Ort, der uns jetzt im Nachhinein noch sehr viel mehr bedeutete als damals schon. Auf der Fahrt tauschten sich die anderen aus, was sie in letzter Zeit erlebt und erreicht hatten, nur ich schaute nachdenklich aus dem Fenster. Wenn man die Zeit doch nur zurück drehen könnte... Ich hätte alles versucht, um ihn zu retten!

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Mal ein bisschen was from the future, weil es diese *moment, Rückblenden - aber in die Zukunft... Vorblenden?* ähh, Szenen auch in Orange gibt und ich die sehr niedlich fand :)

Deine Zukunft in meinen Händen (#GermanLetsDado)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt