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"Ich muss sagen liebe Klasse, Maurice' Frage von der letzten Stunde hat mich ziemlich beschäftigt und ich habe mich nochmal belesen! Erinnert euch wieder, wir hatten über Paralleluniversen, Zeitlinien und die Viele-Welten-Theorie gesprochen! Und wie unsere Entscheidungen immer neue Möglichkeiten erzeugen. Vielleicht wäre ich heute krank, hätte ich am Wochenende doch das Forellenfilet gegessen anstatt meines Steaks, und hätte jetzt aus dummen Zufällen eine Lebensmittelvergiftung. Oder es macht absolut keinen Unterschied, aber in beiden Fällen sind durch die Entscheidungsmöglichkeit zwei verschiedene Welten entstanden. Soweit wieder im Stoff?" Überall nickten unsere Mitschüler und Herr Hoke rieb sich die Hände. "Sehr schön, das freut mich! Maurice hatte nun gefragt, ob das theoretisch Zeitreisen ermöglichen könnte, ohne dass man in ein Paradoxon gerät, das den Fluss der Zeit zerstört. Und ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, die Zeitreisen vielleicht sogar praktisch möglich machen könnte!"

Franziska und ihre Banknachbarin atmeten erstaunt auf und klebten dem Lehrer automatisch sofort an den Lippen. Unser Streber meldete sich unzufrieden. Überall wurde plötzlich getuschelt und auch ich spitzte meine Ohren genau. Das war hundert prozentig wichtig für mein zukünftiges Ich gewesen, auch wenn er bestimmt niemals im Unterricht die Frage gestellt hatte, ob Briefe durch die Zeit reisen könnten. Vorsichtig riskierte ich einen Blick zu Manu, ob er irgendeine Reaktion auf das Thema zeigte, weil er vor ein paar Tagen beim Gespräch mit Micha doch zu viel aufgeschnappt hatte, aber er wirkte kein bisschen alarmiert. Dafür schien er jedoch wahnsinnig neugierig! Bisher hatte ich ihn noch nie so aufmerksam in irgendeinem anderen Fach gesehen! Interessierte er sich für solche Gedankenspiele? Verschiedene Welten, Zeitreisen, so etwas? Es wirkte auf jeden Fall so!

"Zeitreisen sind unmöglich!", nörgelte jetzt der Streber laut, "Man müsste sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, um die Zeit überhaupt zum Stehen zu bringen, und noch schneller, wenn man zurückreisen will. Das werden wir noch die nächsten Jahrhunderte mit unserer Technik nicht hinkriegen!"

Herr Hoke zeigte sich auch hier beeindruckt von dem Wissen, das der Junge mit sich brachte, aber das tat seinem geheimnisvollen Lächeln keinen Abbruch. "Was wenn ich dir sage, dass es eventuell noch eine andere Methode gibt, mit der die Menschheit selbst keine Maschinen entwickeln muss, die uns auf diese Geschwindigkeiten bringen?" Nach einer kurzen Kunstpause fuhr er fort: "Ich rede vom Phänomen der Wurmlöcher!"

Manu neben mir hob seinen Kopf von seinen Armen, aber nur, um sich eine bequemere Position zu suchen. Er wirkte noch immer schwer fasziniert von unserem etwas anderen Ethikunterricht. "Was sind Wurmlöcher?", fragte die Blonde vor uns verwirrt und der Lehrer begann, in seiner Tasche zu graben. "Wurmlöcher sind im Prinzip Verbindungen zwischen zwei Punkten irgendwo im Raum, die durch die sogenannte Raumkrümmung entstehen. Dafür brauchen sie eine große Masse wie zum Beispiel ein schwarzes Loch, um dass sie sich krümmen können. Klingt erst einmal furchtbar kompliziert, ist aber recht leicht vorstellbar!" Er zog schwarzes Papier und ein Päckchen mit weißer Knete hervor, trennte ein winziges Stück der formbaren Masse ab und rollte sie zwischen seinen Fingern zu einer kleinen Kugel. Dann nahm er sich das Blatt vor. "Das hier könnt ihr euch als den Raum vorstellen, der uns umgibt. Nicht den Klassenraum, obwohl der natürlich auch irgendwie zum Raum gehört, aber eigentlich ist damit alles Materielle gemeint. Der Raum ist das Gegenstück zur Zeit und ein Wurmloch kann beides krümmen."

Er bog das Papier ein wenig und zeichnete dann mit der Tafelkreide zwei Kreise auf die gegenüberliegenden Ecken. "Sagen wir, das ist ein Ausschnitt vom Weltraum, einfach irgendwo mitten im Nirgendwo. Und wir wollen ganz schnell von A nach B kommen! Wir könnten natürlich mit einem Raumschiff den ganzen Weg fliegen, aber das würde ewig dauern. Wenn wir nun aber ein Wurmloch benutzen-", er klebte die Knete in einen der Kreise, faltete die Ecken des Blattes übereinander und kurz danach wieder auf, "-überwindet es für uns Raum, und auch Zeit, in wenigen Augenblicken!"

Das weiße Kügelchen hatte sich tatsächlich von seinem Ausgangspunkt gelöst und haftete jetzt im zweiten Kreis. Auch Herr Hoke zeigte sich freudig beeindruckt. "Zuhause beim Austesten wollte die Knete nie mitmachen, was sagt man dazu? Erfolg auf ganzer Linie! Einstein wäre stolz auf uns gewesen! Wusstet ihr, das Wurmlöcher ursprünglich Einstein-Rosen-Brücken hießen? Wieder waren es Quantenphysiker, die ihrer Nachwelt so ein schönes Diskussionsthema hinterlassen haben! Aber so einfach wie hier in der Theorie ist es dann in der Praxis natürlich nicht. Man kann nicht sicher sagen, wohin einen die Wurmlöcher bringen würden. In die Zukunft? In die Vergangenheit, lange bevor irgendwelches Leben auf der Erde existierte? Lichtjahre von der Milchstraße entfernt? Oder sogar in die Nähe eines extrem heißen Sterns, sodass man augenblicklich verglüht! Sie wären nicht nur faszinierend, sondern auch äußerst gefährlich! Aber wieder einmal haben wir Glück! Es gibt nämlich Gerüchte, dass sich auf unserem Planeten ein Wurmloch befindet, dass nicht besonders weit reicht, weder im Raum, noch in der Zeit. Weiß jemand, wovon ich rede?"

Es lag mir auf der Zunge, aber ich kam nicht drauf. Darüber hatte ich sogar schon eine Dokumentation gesehen! An meiner Stelle meldete sich plötzlich Manu. "Meinen Sie das Bermuda Dreieck?"

"Genau richtig Manuel!", Herr Hoke klatsche einmal begeistert in seine Hände. Er freute sich wohl darüber, einen neuen Schüler in seiner allerersten Ethikstunde bereits so aktiv mitarbeiten zu sehen. Da wollte ich meinem Kumpel in nichts nachstehen! "War dort nicht mal ein Flugzeug von den Radaren verschwunden und später ganz woanders wieder aufgetaucht?"

"Ebenfalls richtig, Maurice. Sie waren an ihrem Zielflughafen gelandet, allerdings sehr viel eher als erwartet und mit einer rekordverdächtigen Treibstoffeinsparung! Man könnte logischerweise auch von günstigen Luftströmungen ausgehen, die dort im richtigen Moment geherrscht hatten, aber wo wäre denn dann unsere Fantasie, unser Einfallsreichtum und der Hang zum Übernatürlichen, der uns Menschen ausmacht? Ich finde ja, man sollte in seinem Leben an wenigstens eine unerklärliche oder unbewiesene Sache glauben. Das macht erst den Reiz in allem aus. Einige glauben an höhere Mächte, die unser Leben steuern, an Gott oder Geister, an eine Nachwelt nach unserem Tod. Lasst euch das nicht ausreden und wegnehmen! Es sind wertvolle Gedanken. Und tja, vielleicht existiert dort ja tatsächlich ein Wurmloch im Bermuda Dreieck. Wenn das stimmt, wären Zeitreisen auf jeden Fall nicht mehr so abwegig, wie bisher angenommen! Und Maurice könnte seinen Brief an sich selbst verschicken!"

Ich lachte leise und verlegen mit dem Rest der Klasse mit. Ein Wurmloch hatte also die einmalige Verbindung von der fernen Zukunft in meine Gegenwart ermöglicht. Echt der Wahnsinn, dass Herr Hoke mit seinen etwas wunderlichen Ansichten Recht gehabt hatte! Er glaubte wirklich an das, was er uns hier darlegte, und ich wünschte, ich könnte ihm irgendwann auch den Beweis dafür zeigen, dass er sich nicht täuschte. Doch leider war das zu gefährlich. Vielleicht eines Tages, wenn Manu gerettet war und die Briefe nicht länger gebraucht wurden...

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Die Doku hab ich tatsächlich mal gesehen, aber das ist schon Jahre her :'D hoffentlich ist dann trotzdem alles richtig erinnert!

Deine Zukunft in meinen Händen (#GermanLetsDado)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt