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"Manu?"

Sein Blick zuckte erschrocken zu mir und in Windeseile baute sich wieder seine Maske, sein zweites Gesicht auf: Das des unwissenden Jungen, der einfach glücklich darüber war, dass ich bei ihm blieb. "Dado? Bist du das?", lächelte er angestrengt, "Was ist passiert? Und wo bin ich hier?"

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich schluckte hart. Wie konnte er das aushalten?! Er war seit zehn Sekunden wieder wach und spielte mir bereits eine heile Welt vor! Zerrissen zwischen Besorgnis und Ärger starrte ich ihn an, wie er sich ächzend ein kleines Stück gegen seine Rückenlehne aufrichtete, dann siegte aber das Bedürfnis, ihn einfach nur in meine Arme zu schließen und zu halten. Er reagierte überrascht, als ich vom Stuhl auf seine Bettkante glitt und mich halb um ihn schlang: "H-hey, Dado. Ich bin ja da. Es ist alles gut!"

"Gar nichts ist gut, Manu", flüsterte ich traurig, "Ich habe die Klingen in deinem Schrank gefunden. Sag mir bitte, wieso du das getan hast, anstatt mich weiter anzulügen, dass es dir gut geht!"

Ich hatte ihn getroffen, das spürte ich eindeutig daran, wie er sich versteifte und sein Herz stärker gegen meinen Körper schlug. Seine Maskerade zerfiel in Scherben. "D-du hast...", er keuchte, schluchzte auf und vergrub sein Gesicht an meiner Halsbeuge. Seine mageren Schultern wurden kurz darauf von Weinkrämpfen geschüttelt. Er wirkte zerbrechlicher als je zuvor.

"Warum bist du hier, D-dado? Ich wollte sterben! Hasst du mich denn nicht dafür?", brachte er irgendwann nur schwer verständlich hervor. Rasch verneinte ich. "Ich hasse dich nicht. Ich will dich nur verstehen. Was ist passiert, damit du so eine Entscheidung getroffen hast?"

"Du würdest mich nicht verstehen...", antwortete Manu verzweifelt. Beruhigend strich ich ihm weiterhin über den Rücken. "Lass es mich versuchen!"

"Niemand hat mich je verstanden!"

"Manu, ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest!", beharrte ich weiter. Aber er lachte nur freudlos auf: "Ich brauche keine Hilfe. Mir kann man nicht mehr helfen. Verschwende deine Zeit nicht mit mir!"

Die Art, wie er das sagte, brach mir das Herz. Wieso konnte er nicht begreifen, wie wertvoll er war, nicht nur für mich, sondern auch für so viele andere? "Ich war bei deiner Familie, Manu. Bei deinen Brüdern und deiner Schwester. Sie haben bei dir Zuhause gesessen und geglaubt, du wärst tot! Deine Mom hat alles getan, damit du schnellstmöglich wieder gesund wirst! Und ich hab die Schule sausen lassen, gestern und heute, weil ich dich in Sicherheit wissen wollte! Wenn du stirbst, werden dich mehr Menschen vermissen, als du dir vorstellen kannst! Und wir werden uns Vorwürfe machen, dass wir dich vielleicht hätten aufhalten und retten können! Bitte, rede mit mir und ich werde versuchen, einen Weg zu finden, wie wir alles wieder richten! Ich will, dass du lebst und glücklich bist!"

Manu schluckte mehrere Male angestrengt. In unserer Umarmung fühlte ich jede seiner Bewegungen, jedes noch so kleine Zucken und Beben. Er versuchte unter größter Anstrengung, die Fassung zu bewahren, aber schaffte es nicht ganz. Doch wenigstens schien das, was ich ihm hatte erklären wollen, bei ihm angekommen zu sein. "Ich kann nicht... Ich kann darüber nicht reden", sagte er trotzdem mit einem lauten Schniefen und einem sich anbahnenden Schluckauf. Tröstend tätschelte und wiegte ich ihn ganz leicht und sanft. "Das kannst du... und egal was es ist, ich schwöre dir, dass ich dich dafür weder hassen, noch verspotten werde! Niemand wird es je von mir erfahren!"

Zögerlich stemmte mein Kumpel sich jetzt gegen die Umarmung. Ich ließ ihn, wenn auch mit einem schlechten Gefühl, und schaute ihn dann geduldig an. Mehrmals schien er zum Sprechen ansetzen zu wollen, unterbrach sich allerdings bereits selbst, bevor er überhaupt das erste Wort hervorgebracht hatte. Bestimmt zwei ganze Minuten ging das so, bis ich vorsichtig seine ineinander verkrampften Hände berührte, voneinander löste und in meine nahm. "Du schaffst das!", munterte ich ihn zuversichtlich auf.

Manu nahm all seinen Mut zusammen, atmete tief durch und erzählte mir dann tatsächlich, was ich von ihm erbeten hatte. "Ich habe sch-schlimme Depressionen. Seit ich z-zehn Jahre alt bin schon. Es ist eine fiese Stimme in meinen Ohren, die mir jeden Tag vorhält, wie erbärmlich und nutzlos ich bin! Ich hab alles versucht, aber sie geht nicht weg und wird immer lauter! Manchmal kann ich dann meine eigenen Gedanken gar nicht mehr verstehen, wenn sie redet. Ich halte das nicht mehr aus! Deswegen wollte ich es jetzt beenden!" Er zitterte und biss seine Zähne zusammen. "Seit Samstag will sie keine Ruhe mehr geben. Nicht eine Sekunde lang!"

"Was ist am Samstag passiert?", hakte ich mit schlechtem Gewissen nach. Hätte ich nur ein wenig mehr auf Manu eingeredet an diesem Tag, wäre das hier tatsächlich nicht passiert! Aber so musste ich meinen Fehler jetzt wieder gut machen!

"Die Leute aus Essen haben mich besucht. Aber... sie haben mich nicht ernst genommen! Sie haben angefangen, böse Scherze über mich zu machen, ohne zu verstehen, wie nahe es mir wirklich ging. Irgendwann bin ich gegangen, aber... es hat mich immer noch verfolgt! Sie waren mal meine besten Freunde...!"

"Wir werden dich nicht so hintergehen, versprochen! Echte Freunde machen so etwas nicht!", erwiderte ich mit einem plötzlichen Gefühl der Abscheu. Sie hatten Manu ausgenutzt, obwohl er auch schon so nur wenigen Mitmenschen vertraute. Aber ich war entschlossen, auch dieses Problem für ihn in Angriff zu nehmen. Hauptsache, er wiederholte sein Vorhaben am zwölften September nicht!

Der blasse Junge war jetzt wieder ein Stück ruhiger geworden. Er kämpfte nur noch mit dem abklingenden Schluckauf und schaute mich dann mit großen fragenden Hundeaugen an. "Warum bin ich dir überhaupt so wichtig, Dado? Du hast doch schon die anderen, und einen besten Freund hattest du auch vor mir. Wieso ich?"

Darüber musste ich erst gut nachdenken, damit ich mich nicht aus versehen verplapperte und den Brief erwähnte. Wenn er wüsste, dass ich ihn ursprünglich deswegen angesprochen hatte... Das durfte nicht passieren, sonst waren alle Bemühungen sicher umsonst! "Naja, du... du warst ganz alleine, aber trotzdem von Anfang an nett zu mir! Du hast dich nach mir erkundigt und meine Meinung war dir wichtig. Das haben wenige vor dir getan! Dann... hast du mir leid getan und ich wollte wissen, wie ich dich glücklich machen kann, weil ich dein Lächeln so sehr mag! U-und jetzt...", ich brach mit leicht brüchiger Stimme ab und schaute auf Manus Lippen. Sollte ich oder sollte ich nicht? War dies der richtige Moment, oder war ich dabei, einen weiteren Fehler zu machen? Mein Kumpel beobachtete mich weiter mit schief gelegtem Kopf, auf meine letzte Erklärung wartend, aber mehr konnte ich schlicht und einfach nicht in Worten ausdrücken. Das wäre nicht stark genug! Und bevor ich mich stoppen konnte, war ich auch schon vorgeschnellt, um Manu einen blitzschnellen, kurzen Kuss auf seinen bleichen Mund zu geben.

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Cliffhanger jagt Cliffhanger and I'm not even sorry ;P Mit etwas Glück werden es etwa 60 Kapitel, aktuell bin ich bei 55 und versuche so schnell wie möglich fertig zu werden! Dann kann ich die letzten Kapitel vielleicht als Lesenacht gestalten!

Deine Zukunft in meinen Händen (#GermanLetsDado)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt