Scherben

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Nach einer grässlichen, schlaflosen Nacht in meinem eigenen Zimmer widme ich im Wohnzimmer wieder den Kartons. Bei dem ganzen Stress in letzter Zeit ist einiges stehen geblieben. Und vielleicht lenkt es mich ein wenig ab. Stück für Stück fülle ich das deckenhohe Bücherregal mit all unseren Büchern. Natürlich komme ich ganz oben nicht dran, wie sehr ich mich auch anstrenge. Nach kurzer Überlegung, wer von den Jungs größer ist, entscheide ich mich seufzend für Malte und steuere mit einem Stapel Bücher auf dem Arm auf sein Zimmer zu. Tief atme ich durch, bevor ich zögerlich an die Tür klopfe. "Komm rein!" Ruft er, ich drücke die Klinke herunter. Langsam betrete ich sein Zimmer. Malte schaut von dem Karton auf, den er gerade ausräumt und guckt fragend, als er mich sieht. Ich fühle mich augenblicklich noch schlechter. Nervös zupfe ich am Einband des oberstes Buches auf meinem Arm, als ich mitten im Raum stehe. Ich bin so biestig zu ihm gewesen.. Trotzdem sage ich nichts zu gestern. "Hey.. Ehm.. Kannst du mir vielleicht im Wohnzimmer helfen? Ich bin zu klein.." Frage ich vorsichtig und erwarte Ablehnung. "Ja." Antwortet Malte jedoch und überrascht mich damit wieder. Alles in mir zieht mich zu ihm. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Aber ihm die Wahrheit sagen, das kann ich auch auf keinen Fall. Hin und her gerissen sehe ich zu, wie er zur Tür geht. "Warte!" Stoße ich hervor und greife nach seiner Hand. Die plötzliche Berührung lässt meine Fingerspitzen unerträglich kribbeln. Ich möchte meine Hand zurück ziehen, doch Malte lässt mich nicht. Im Gegenteil, er verschränkt unsere Finger miteinander. "Ja?" Fragt er, ich spüre seinen erwartungsvollen Blick auf mir. Das schöne Kribbeln breitet sich aus, ich bekomme Gänsehaut. "Malte.. Es tut mir leid, dass ich gestern und überhaupt die ganze Zeit so zickig war. Und dass ich wieder.. gelogen habe. Das war nicht so gemeint. Der Umzug stresst mich.. ich hab nicht gut geschlafen, weißt du? Neue Umgebung und so.." Ich entschuldige mich mit Lügen für meine Lügen. Monster. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich möchte ihn nicht mehr anlügen. Wir haben uns fast noch nie angelogen. Ich sehe in seinen Augen, dass er mir nicht glaubt. "Ist schon gut. Jeder hat mal eine doofe Phase." Lächelt er, doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht. Er weiß, dass ich schon wieder lüge. Du bist ein Monster, Lotta. Du verletzt ihn immer mehr. Ich entziehe ihm schnell meine Hand. "Okay. Hilfst du mir dann jetzt?" Frage ich und schiebe mich an ihm vorbei in den Flur. Malte folgt mir ins Wohnzimmer und ich gebe ihm die Bücher, die oben ins Regal müssen. "Brauchst du mich noch?" Fragt er, als der Karton leer ist. Ich schaue ihn verdutzt an. "Was?" "Brauchst du noch meine Hilfe?" Fragt er. Für einen Moment dachte ich, er meint was anderes. Natürlich brauche ich ihn. Mehr, als er glaubt. Sag jetzt nicht, was du denkst, Lotta. Ich schaue mich um und zucke mit den Schultern. "Gerade nicht, glaub ich." "Okay.." Seine Finger streifen meine Hand, ich zucke zurück. Maltes Blick spricht Bände. Was ist los mit dir? Schreien seine Augen mich beinah an. "Ich werde dann mal weiter machen. Danke für die Hilfe." Stammel ich, streiche mir hektisch eine Locke hinters Ohr. "Kein Problem." Er geht er zurück in sein Zimmer. Ich höre, wie seine Tür sich schließt und kurz darauf dringt laute Musik aus dem Zimmer. Ich lehne mich ans Regal und atme tief durch, bevor ich beginne, den nächsten Karton mit Teelichtern und Vasen und Kerzen auszupacken. Meine Hände zittern verdächtig. Er weiß, dass du gelogen hast. Er weiß es. Was bist du für eine schreckliche beste Freundin. Du machst alles kaputt! Die Vase, die ich wegstellen will, gleitet mir aus den Händen und fällt auf den Boden. Sie zerspringt in etliche Scherben, während ich entsetzt da stehe und auf die Scherben starre. Meine Freundschaft mit Malte war genauso kaputt. Tränen laufen mir mal wieder übers Gesicht. So eine Scheiße! "Fuck!" Fluche ich, als ich mich endlich regen kann und hocke mich hin, um die Scherben einzusammeln. "Lotta! Was zum.. Was ist passiert? Fass das nicht an, du verletzt dich noch!" Höre ich Chrissi sagen und schluchze. Egal. Ich verletze mich eh schon die ganze Zeit. Und Malte. Das ist das Einzige, was ich momentan richtig gut kann. "Geht schon, ich.." "Nein, ich mache das. Du setzt dich jetzt aufs Sofa und beruhigst dich." Befiehlt Chrissi und ich widerspreche ihm nicht. Während ich auf der Couch sitze und versuche, aufzuhören zu heulen, räumt Chrissi die Scherben weg. Nachdem er alles im Müllsack versenkt hat, setzt er sich zu mir. "Erklärst du mir, was los ist?" Fragt er ruhig, ich knete meine Hände und schüttel den Kopf. "Ich kann nicht." Schluchze ich, er seufzt. "Lotta.. Bitte.. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Wir haben uns doch alle so auf diese Butze gefreut. Aber dir tut irgendwas nicht gut. Ich möchte doch nur helfen." Er nimmt meine Hände und drückt sie sanft. "Ich.. Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist. Ich muss.. das alles erstmal ordnen... Okay?" Versuche ich, unter Schniefen zu erklären, Chrissi lächelt mich verständnisvoll an. "Natürlich ist das okay. Aber du weißt, wenn du soweit bist, kannst du mir alles erzählen. Ich bin für dich da. Und Malte auch. Oder.. Oder hat es mit ihm zu tun?" Hakt er nach und ich spüre, wie ich feuerrot werde. In dem Moment bemerke ich, dass Malte im Türrahmen lehnt. Wann war er aus seinem Zimmer gekommen? "Was hat es mit mir zu tun?" Will er wissen, sieht mich fragend an. Ich springe auf und dränge mich an ihm vorbei. Malte hält mich grob an den Schultern fest, doch ich schüttle seine Hände ab. "Nichts! Es hat nicht immer alles mit dir zu tun!" Fahre ich ihn an, Malte schreckt zurück und in seinen blauen Augen spiegeln sich Schock und Entsetzen und.. Schmerz. Super, Lotta. Du hast es schon wieder getan. Ich renne den Flur hinab, stoße meine Tür auf und knalle sie hinter mir zu. Schluchzend lasse ich mich auf den Teppich sinken.

Malte:

"Ich bin für dich da. Und Malte auch.. oder hat es mit ihm zu tun?" Höre ich Chrissi fragen, als ich aus meinem Zimmer komme und halte inne. Leise gehe ich zum Wohnzimmer. Lotta und Chrissi sitzen auf dem Sofa. Sie weint. Es tut mir jedes Mal noch mehr weh, sie so zu sehen. Ich möchte sie endlich wieder lächeln sehen. Doch anstatt dessen wird sie knallrot und starrt Chrissi sprachlos an. Ich ergreife das Wort. "Was hat es mit mir zu tun?" Will ich wissen. Lotta zuckt zusammen und fährt herum. Dann springt sie auf und will wieder abhauen, doch ich lasse sie nicht. Ich will es endlich wissen. Ich halte ihre Schultern fest. Sie schüttelt meine Hände energisch ab. "Nichts! Es hat nicht immer alles mit dir zu tun!" Schreit sie mir ins Gesicht und läuft in ihr Zimmer. Völlig geschockt sehe ich ihr hinterher. Wieso ist sie plötzlich so rot geworden? Und warum ist sie so gemein zu mir? Chrissi wirft mir einen überforderten Blick zu. "Was war das denn jetzt?" Frage ich, er zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Bevor du rein gekommen bist, hat sie bloß geweint. Und dann hat sie dich gesehen und ist ausgerastet. Das geht so nicht weiter, Malte. Wie soll das morgen beim Festival werden? Wollt ihr euch da übers ganze Gelände anschreien?" Ich schüttel den Kopf. Tränen sammeln sich wieder in meinen Augen. "Ich weiß doch auch nicht.." Schluchze ich, Chrissi legt mir eine Hand auf die Schulter. "Kannst du mir dann wenigstens sagen, was mit dir los ist? Du bist neuerdings auch ziemlich nah am Wasser gebaut.." Fragt er leise, besorgt. Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt. Ich werde rot. "Ich.. Ich kann nicht. Ich kann das nicht." Flüstere ich, stehe auf und flüchte in mein Zimmer. Auf meinem Bett kuschel ich mich in meine Decke und wünsche mir eigentlich nichts mehr, als Lotta in meinen Armen zu halten.

Jeden Morgen - AnnenMayKantereit FanfictionWhere stories live. Discover now