Das Kapitel von Fragen über Fragen

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Von dem ganzen Reiten waren meine Muskeln müde und verspannt. Vielleicht auch von der Arbeit. Müde tappste ich in Jogginghose die Treppen lang runter und in die Küche. Heute würde ich definitiv kein einziges Pferd reiten! Aber ich wollte einen kleinen Waldspaziergang mit Primo machen, den hatte er sich verdient.
Mein Vater saß über der Zeitung am Frühstückstisch, als ich mir einen Stuhl zurecht schob musterte er mich.

"Du hast heute die Eleganz eines Elefanten, mein Kind." bemerkte er amüsiert.

"Muskelkater." murmelte ich. Manchmal war ich etwas morgenmuffelig. Schlafen war einfach zu schön.

"Na, das Arbeitsleben hat dich wohl voll im Griff." meinte meine Mutter bester Laune. "Möchtest du einen Kakao?"

Als ich nickte erhob sie sich um die Milch in der Mikrowelle zu erwärmen und mir das Kakaopulver hinzustellen. Es konnte aber auch schön sein sich mal bedienen zu lassen.

"Ab morgen ist Thomas wieder da." erzählte ich als ich mir Brote für später schmierte. "Dann brauch ich nicht mehr helfen."

"Das ist doch gut. Hast du morgen nicht auch wieder Volleyball?" erkundigte sich meine Mutter.

"Ja, passt mir auch gut. Heute werde ich jedenfalls kein Pferd reiten, ich hab einfach zu dolle Muskelkater. Sonst wird das morgen nichts."

"Holt dich wieder der charmante, junge Mann ab? Du hast ihn mir gar nicht vorgestellt."

"Was denn für ein junger Mann?" Mein Vater war plötzlich hellhörig geworden.

"Morgen holt Eva mich wieder ab, die konnte an dem Samstag nur nicht, deswegen hat Martin mich mitgenommen."

"Achso, schade. Ich dachte, er kommt dich jetzt häufiger holen." sagte sie und zwinkerte mir zu.

"Nein, nein. Eva ist mein Hol- und Bringservice."

"Wie alt ist Martin denn?" fragte mein Vater.

"Weiß nicht? Vielleicht ein Jahr älter oder zwei?" meinte ich. Am liebsten hätte ich das Thema gewechselt.

"Und was macht er beruflich?" wollte mein Mutter wissen.

Ich sah die beiden missbilligend an. "Wird das hier sowas wie ein Kreuzverhör? Er ist in der Kfz-Klasse. Und jetzt hört auf mich auszufragen, er ist nicht mein Freund!"

Die Mikrowelle klingelte und ich stand auf um meine Milch herauszunehmen.

Im Stall war wie immer alles ziemlich ruhig. Henna und ich hatten uns wieder aufgeteilt. An diesem Morgen war ich bei den Jährlingen und den Zweijährigen. Bei einigen der Jungspunden konnte man erahnen wer der Vater war, auf gescheckte stieß ich allerdings nicht. Trotzdem waren sie alle zu niedlich! Hin und wieder verweilte ich an einer Box um eins der Pferde zu streicheln.

Als ich fertig gefegt hatte stellte ich den Besen ab und ging wieder in den Stalltrakt, wo Primo stand. Der Hengst brummelte als er meine Schritte hörte. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht - es war aber auch immer das selbe mit ihm!
Ich griff rasch noch unseren Beutel mit dem Putzzeug auf und dann holte ich ihn aus der Box.
Manchmal faszinierte es mich wie stattlich Primo Victoria war. Seine Körperkondition war deutlich besser, die Muskeln saßen inzwischen an den richtigen Stellen. Wir waren aber noch lange nicht dort, wo wir sein sollten. Bis zum Cup mussten wir noch einiges tun. Aber halt nicht heute.
Für seinen großen Kopf musste ich mir etwas mehr Zeit nehmen, da er sich wohl wieder mal in den Mist gelegt hatte. Das gefiel dem Hengst ehr nicht so sehr - als ich sein Halfter öffnete und begann ihn mit einer weichen Bürste sauber zu machen nahm er ihn weit hoch.
Ich zog ihn wieder zu mir herunter.

"Her mit der Bimmelbirne!" sagte ich als er auf meiner Höhe war. "Ich fühl mich wie eine Muddi, die ihrem Kind das Gesicht waschen muss."

Danach war eine Diskussion nicht mehr nötig, Primo ergab sich auch so. Doof war er nicht. Bevor ich jedoch mit ihm losging massierte ich ihm die Kiefermuskulatur. Ich strich dem bunten Hengst sanft vom Kiefergelenk zum Jochbein, dann über die Kiefer- und Kaumuskulatur und wieder zum Kiefergelenk. Das machte ich an beiden Seiten parallel. Zumindest schien es ihm zu gefallen, er atmete aus und begann zu kauen.
Erst dann gingen wir los.

Es war nicht ganz leicht im Wald Strecken zum Spazierengehen zu finden, schließlich war nahezu überall Tiefsand! Kiefern und Tiefsand... Manchmal fand ich allerdings doch einen kleinen Trampelpfad oder wir folgten verschiedenen Wildwechseln, Primo lief dabei die ganze Zeit hinter mir. Wahrscheinlich auch Muskelkater. In meinen Spuren zu folgen war wohl leichter, da die Wege nur schmal waren. Unsere Wanderung führte uns kreuz und quer durch den Wald und an manch einer Stelle bereute ich es keine Fotografen zu haben, das waren die Stellen, die perfekt für Fotoshootings geeignet wären! Ich hatte da schon so meine Ideen. Wirklich viele Ideen. Das war wohl eine Reiterkrankheit, zumindest hoffte ich, dass ich nicht die einzige mit so viele Tagträumen war.

Irgendwann konnte ich nicht mehr. Spaziergänge, Muskelkater und Tiefsand - nicht meine schlauste Entscheidung. Ich setzte mich auf den nächstgelegenen Baumstamm um zu verschnaufen.

"Nur kurz sitzen, Primo." murmelte ich außer Puste.

Plötzlich machte er einen Schritt vor und vergrub seinen Kopf zwischen meinen Armen. Okay, gut... Ein wenig verwundert sah ich zwischen seine Ohren den Mähnenkamm entlang und legte meine Wange auf seinen Schopf.

"Du bist so ein liebenswerter Kerl, Esel. Aber ich hab nicht vergessen, dass du mich neulich im Wald fast in den Dreck gesetzt hast," sagte ich leise, "hörst du?"

Primo seufzte.

"Ja, ja."

Nach einer Weile löste ich mich wieder.
"Ich könnte doch bestimmt auf deinen Rücken klettert und du trägst mich zum Stall, oder?"
Als er nicht reagierte stieg ich auf den Stamm und hangelte mich auf seinen Rücken. Das Ende vom Strick legte ich vor mir auf den Widerrist, dann trieb ich ihn an.
Es brauchte keine Navigation, irgendwann fanden wir einen größeren Weg und dem folgte Primo dann. Der Hengst hatte quasi ein eingebautes Navi mit Wandermodus, sehr nützlich.

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt