Fanatiker

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Runa stellte das Schälchen vor den Amós auf den Tisch. Bis auf seine braunen Augen, die von langen Wimpern umrahmt wurden, erkannte sie nicht viel seines Gesichtes. Wie alle Amóda verhüllte auch dieser sich mit Tüchern in den verschiedensten Farben. Doch normalerweise entblößten sie in der Stadt ihr Gesicht. Zumindest hatten das die getan, die bisher ins Majestätsloch gekommen waren. Die waren es auch gewesen, die ihr ein wenig von der Bedeutung der einzelnen Farbe der Gewänder erklärt hatten. Nachtblau, Gelb und Purpur. Aha, dachte das Thekenmädchen, er ist wohl noch ein junger Amós, der entweder charmant oder vertrauensvoll ist und intuitiv handelt oder seinem Volk eine Inspiration ist. Das Wüstenvolk hatte sich schon vor der Zweiten Großen Stille intensiv mit Farben und ihren Bedeutungen auseinandergesetzt. In der Eintönigkeit der Wüste Erimos konnten solche Farben wie Hoffnungsschimmer wirken und außerdem teilten sie den Karawanen von der Entfernung mit, ob sie sich Freunden oder Feinden näherten.

Aber Runa hatte schon Seltsameres als einen verschleierten Amós gesehen. Einmal waren eine Nitara, die kaum dem Kindesalter entwachsen war und ein Neraw, der trotz mehrerer Eingriffe deutlich älter war, in ihre Kneipe gekommen. An einem der Wandtische hatten sie Platz genommen und danach ihr Liebesleben sehr deutlich und ausführlich besprochen. Kaleo hatte sich totgelacht, während sie die beiden nur schockiert anstarren konnte. Aber das Schlimmste an der Sache war gewesen, sie hatten nicht einmal etwas bestellt und der einzig andere Gast an dem Tag war vor der Vorstellung geflohen, ohne zu zahlen. Also ja, Verschleierungen juckten sie da wenig.

Wie viel?", fragte der Amós und holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Runa verschränkte die Arme vor der Brust und schielte auf die Schale. Das war niomfischer Rum mit einer extra Portion Zucker. Das trank kaum wer, weil die Flasche schon ewig rumstand und die Getränke der Niomfi alle einen salzigen Beigeschmack hatten. Nur Niomfi schmeckte das wirklich und die kamen so gut wie nie an Land. Die blonde Frau war froh, wenn sie es loswurde.

Sie löste die Verschränkung ihrer Arme und fragte: „Was hast du denn zu bieten?" Wenn das Feilschen vor der Zweiten Großen Stille schon verbreitet war, hatte es seit dem Knall seinen Höhepunkt erreicht. Überall, auch in Gasthäusern und Kneipen, wurden gehandelt. Ihre Währung waren Worte. Vielleicht gerade, weil die sowieso Mangelware waren, war noch das kleinste ein Vermögen wert.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie bis vor kurzem nicht darüber nachgedacht, da Worte für sie bisher Zahlungsmittel und Erinnerung an etwas Unerreichbares waren. Dank Kaleo hatte sich der letzte Punkt aber geändert. Sie lächelte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Der Amós legte zwei Fetzen vor ihr auf den Tisch. „R-O-S-E", las sie auf dem ersten. Unwillkürlich klopfte sie die Buchstaben mit wie es Kaleo auch immer tat. Das kannte sie und Stolz flammte in ihr auf, dass sie es tatsächlich lesen konnte.

Runa sah auf das zweite Blatt. „ -E-I-N", stand da und sie runzelte die Stirn. Der Buchstabe am Anfang sagte ihr nichts, obwohl sie ihn schon mehrmals gesehen hatte. Allerdings hatte ssich Kaleo bisher geweigert, ihr den Buchstaben beizubringen. Sofort griff sie danach.

Die rechte Hand ballte sie zur Faust und mit der linken wischte sie darüber. Das genügt. Der Wüstenbewohner schnaubte und steckte das andere Wort wieder ein. Unter seinen Stoffschichten wirkte der Amós, als würde er sich ins Fäustchen lachen, aber Runa war das egal. Sie hatte ein Wort ohne Probleme lesen können und noch dazu diesen ominösen Buchstaben gefunden, den ihr Kaleo nun unbedingt beibringen musste. Dieses Mal würde er sich nicht davor drücken können!  ie blonde Frau war zufrieden mit der heutigen Ausbeute.

Schwungvoll ging sie hinter die Theke und widmete sich dem Abwischen der Schankfläche.

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Der Klang der WorteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt