(Zu)Flucht

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Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sein Kopf drohte zu zerspringen, seine Zunge klebte am Gaumen und er fror erbärmlich, während ihm der Schweiß von der Stirn ran. Harry Potter konnte seinen Puls am Hals schlagen spüren, so schnell, dass er glaubte, jeden Moment würde eine Ader platzen.

Die Dursleys hatten den knapp Zwölfjährigen, den ganzen Tag bei über dreißig Grad in der Sonne schuften lassen. Am Abend hatten sie ihn ohne etwas zu essen oder zu trinken in den Schrank unter der Treppe gesperrt und waren ausgegangen. Bisher waren sie nicht zurück. Harry war alleine und er wusste, er brauchte Hilfe. Normalerweise konnte er sich gut selber um seine Verletzungen kümmern, doch heute konnte er kaum einen Finger rühren. Unter heftigen Schmerzen setzte er sich auf. Die Tür zum Schrank aufzubekommen war kein Problem, das hatte er schon als dreijähriger gelernt.

Stöhnend schleppte Harry sich in den ersten Stock und war einmal mehr froh, dass er Hedwig bei Hagrid in Pflege gegeben hatte. Im Bad trank er Wasser aus dem Hahn, bis er sich beinahe übergab. Sein Spiegelbild erkannte er selber kaum. Graue Haut, eingefallene Wangen und mit rot unterlaufenen Augen starrte es ihn an. Im Schlafzimmer von Onkel und Tante fand er seinen Koffer. Er war zu seinem Glück unverschlossen. Harry nahm seinen Zauberstab, das Fotoalbum, welches er von Hagrid bekommen hatte, seinen Gringotts-Schlüssel und den Tarnumhang heraus. Unter größter Anstrengung stopfte er das Album, den Schlüssel und den Umhang in einen alten Rucksack von Dudley, den Zauberstab hielt er in der Hand, als er das Haus, welches ihm nie ein Zuhause war, verließ.

Die Nachtluft war noch immer nicht wirklich kühl. Der Junge schleppte sich einige Straßen weiter, durch das menschenleere und stille Little Whinging. Mehrere Male hatte er das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren und hielt sich dann an einer der Laternen fest. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte. Er dachte an Ron und Hermine, er könnte doch zu einem von ihnen, aber er wusste nur so ungefähr, wo sie wohnten und ohne Geld zu ihnen zu gelangen, wäre schwierig. Die Aussichtslosigkeit seiner Situation traf ihn wie ein Blitz. Wieder meldete sich der Schwindel und dieses Mal konnte er einen Sturz nicht verhindern. Harry kippte nach hinten und riss den Arm nach oben. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Eine Sekunde später kam ein gigantisches Paar Reifen quietschend zum Stehen. Sie gehörten, wie Harry erkannte, als er den Kopf hob, zu einem grellvioletten Bus, einem Dreidecker, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Ein Schaffner in violetter Uniform sprang aus dem Bus und begann laut in die Nacht hineinzusprechen.

»Willkommen im Fahrenden Ritter, dem Nottransporter für gestrandete Hexen und Zauberer. Strecken Sie einfach die Zauberstabhand aus, steigen Sie ein und wir fahren Sie, wohin Sie wollen. Mein Name ist Stan Shunpike und ich bin für heute Abend ihr Schaff—«

Der Schaffner verstummte jäh. Er hatte Harry entdeckt, der immer noch halb auf dem Boden lag. Stöhnend rappelte dieser sich hoch.

»Was hast du denn da unten gesucht? Geht's dir gut?«, fragte Stan, jetzt ganz ohne seinen beruflichen Ernst. »Bin hingefallen, alles in Ordnung«, sagte Harry.

»Wenn du meinst«, sagte Stan nicht wirklich überzeugt.

»Also willst du mitfahren?«, wollte er dann wissen und beobachte Harry genau.

»Äh...ja ich will mitfahren«, sagte der Junge und stieg schnell in den Bus. Es gab keine Sitze. Nur Betten auf drei Etagen und sogar einen Kronleuchter.

»So, wohin soll's denn gehen?«, wollte Stan wissen. Harry schluckte schwer und unterdrückte den Drang, sich zu übergeben.

»Hogwarts...«, sagte er schwach.

»Mhm...mach elf Sickel, aber du weißt schon, dass Ferien sind?«, Harry nickte und seine Knie wurden weich.

»I-ich hab kein Geld«, sagte er und wollte schon wieder aussteigen, aber Stan hielt ihn zurück und drückte ihn auf das Bett, neben welchem sie standen.

Mit deinen AugenWhere stories live. Discover now