Gefühlschaos

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Aufgeregt stieß ich die große Krankenhaustür auf und ließ sie achtlos wieder zurück fallen, obwohl Emmett direkt hinter mir war.
,, Weißt du wo Carlisle ist?", keuchte ich und fühlte mich als würde ich schlecht Luft bekommen. Emmett riss die Tür erneut auf und sah mich an.
,, Frag beim Empfang nach, er hat mir nichts gesagt."
Mit schnellen Schritten liefen wir durch den langen Gang an Patienten und Besuchern vorbei. Plötzlich kam Carlisle aus einem der Räume heraus und ich stieß mit ihm zusammen. Erstaunt und fordernd guckte ich zu ihm hoch.
,, Was ist genau passiert?"
Carlisle überlegte einen Moment, vielleicht dachte er auch an die ärztliche Schweigepflicht aber ich konnte mir gut vorstellen, dass sie ihm unter diesen Umständen ziemlich egal war. Er nickte Emmett und mich in einen leeren Raum und fing dann an, alles zu erklären.
,,Vor einer Stunde hat Seth mich angerufen, er klang total durcheinander. Er erzählte, wie er und Paul Olivia hinter der Schule auffanden. Sie lag dort, die Hände vor dem Gesicht und mit aufgeschlagenen Knien. Er meinte, dass sie versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken. Nach einiger Zeit brachten sie Olivia dazu ihre Hände vom Gesicht wegzunehmen... Daraufhin riefen die beiden mich umgehend an. Ihr Gesicht hat sehr starke Schläge abbekommen, ihr Jochbein ist angeschwollen, es ist zwar nicht gebrochen aber geprellt. Trotzdem sind es unheimliche Schmerzen die Olivia aushalten muss, zu dem kommt noch, dass ich ihre Lippe nähen musste. Ihr Auge auf der Seite des verletzten Jochbeins ist angeschwollen und wird ziemlich blau werden... Zuerst haben wir nur gekühlt aber die Schmerzen sind zu stark, weshalb sie jetzt noch Schmerzmittel bekommen hat. Ihr Vater wurde informiert, er wird in der nächsten Stunde ankommen."
,, Scheiße...", war das einzige was ich herausbringen konnte, ich verzog mein Gesicht und raufte mir die Haare. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie jetzt aussah und vor allem, wie es dazu gekommen war.
,, Denkst du, ich kann zu ihr?", fragte ich vorsichtig.
,, Ich weiß es nicht, ich werde erst kurz nach ihr sehen."
Ich nickte zustimmend. Carlisle drehte sich um und legte die Hand auf den Türgriff, er verharrte einige Sekunden in dieser Position und drehte sich dann nochmal zu uns.
,, Sie hat bisher kaum geredet, geschweige denn davon, wieso ihr das zugestoßen ist. Vielleicht kannst du nachher mit ihr reden, sie beruhigen aber auch klar und deutlich sagen, dass sie unbedingt Anzeige erstatten soll. Die Verletzungen sprechen definitiv auf Gewalteinwirkung und ihre Aussage ist sehr wichtig, außerdem würde es die Anzeige unterstützen ... Wenn ihr Vater da ist, werde ich die Polizei anrufen", für einen Moment verlor er den Faden und dachte an Olivia, ,, Sie hat heute viel durchmachen müssen."
,, Ich werde mein Bestes geben."
,, Übrigens, Seth sitzt im Wartezimmer. Er macht sie Vorwürfe, nutze die Zeit, geh zuerst zu ihm."
Ich nickte zustimmend und mein Vater verließ den Raum.
,, Emmett, kannst du bitte mitkommen?", bat ich meinen Bruder. Es beruhigte mich immer, wenn er in unangenehmen Situationen dabei war. Er strahlte eine Stärke aus, die mir gut tat.
,, Selbstverständlich, los geht's."
Etwas ruhiger als vorhin liefen wir zum Wartezimmer, welches glücklicherweise leer war. Seth saß in der einen Ecke des Raumes und Paul mit klopfenden Füßen auf der anderen Seite. Sie schwiegen.
,, Sam", staunte Seth und kam auf mich zu, um mich zu umarmen.,, Du glaubst nicht, wie leid es mir tut. Ich konnte mein Versprechen nicht einhalten und Olivia musste darunter leiden." Geknickt und mit hängendem Kopf stand er vor mir, Paul machte sich ebenfalls ungewöhnlich starke Vorwürfe.
,, Ich habe Olivia ein Versprechen gegeben, nicht du... Ich weiß selber nicht genau, wie sie auf mich reagieren wird", erwiderte ich nachdenklich. Ich gab ihr mein Wort und hatte es gebrochen, ich hatte Schuld und nebenbei absolut keine Ahnung was sie denken würde. Bevor ich mir darum weiter Gedanken machen konnte, ließ mich eine Denkweise aus dem Raum aufhören.
,, Ich werde diese Schweine verprügeln, fertig machen, töten", dachte Paul und ballte seine Hände zu Fäusten. Er knirschte seine Zähne aufeinander und atmete schneller. Hatte er sich etwa...? Nein. Nicht auf Olivia, nicht auf die kleine, schüchterne Olivia.
,, Ich denke, sie wird sich weniger über dein Versprechen Gedanken machen, Sam. Sie wurde gerade erst verprügelt und liegt jetzt im Krankenhaus, hat wahrscheinlich panische Angst vor dem oder denen, die ihr das angetan haben. Es gibt gerade wichtigeres", brachte mich Emmett wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Wahrscheinlich hatte er sogar recht.
,, Dann lasst uns zu ihr gehen", meinte Paul. Mit zusammengekniffenen Augen guckte ich ihn an. Über irgendwelche Hormonschübe seinerseits wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen, stattdessen machten wir uns auf den Weg. Wir beschlossen, dass ich alleine reinging, da die drei Meter großen Jungs wohl eher furchteinflößend als beruhigend gewesen wären.
Ich lauschte einmal an der Tür, Carlisle war immer noch im Raum und redete mit sanfter Stimme auf sie ein. Augenblicklich änderte er das Thema und fragte, ob es sie stören würde, wenn ich dazu stoßen würde. Sie verneinte und Carlisle öffnete die Tür, nachdem ich auf ein wenig Sicherheitsabstand gegangen war.
,, Komm rein, Sam", bat er mich mit einem Nicken. Langsam betrat ich das Zimmer, ich hatte ein wenig Angst davor, Olivia zu sehen...
,, Hi, Liv", lächelte ich traurig. Sie lag in einem Krankenhausbett, Carlisle hatte gesagt sie würde noch eine Nacht zur Sicherheit hier bleiben. Ein bisschen schockiert starrte ich in ihr Gesicht, wand meinen Blick aber schnell wieder ab. Ihr Gesicht sah so verunstaltet aus, Carlisle hatte auf jeden Fall untertrieben. Ihr rechtes Auge war dick angeschwollen und man konnte förmlich dabei zu sehen, wie es bunter wurde. Genauso sah ihr Jochbein aus, blau und sehr dick. Die Augenbraue schien mehrere Zentimeter zu hoch zu sitzen, durch die Schwellung. Aus ihrer Lippe ragte ein kleiner, feiner Faden und es war noch immer Blut zu sehen, zu riechen leider auch. Das machte die Sache nicht einfacher.
,, Ich lass euch kurz alleine. Olivia, dein Vater wird bald hier sein. Du machst das sehr gut", sagte Carlisle mit ärztlicher Distanz, lächelte aber zum Ende warm. Olivia nickte als Antwort. Ruhig fiel die Tür zu und ich stand etwas unbeholfen im Zimmer.
,, Ich... Hey, ähm, wie geht es dir?", stotterte ich ungeschickt. Das war wohl die dümmste Frage, die ich hätte Fragen können.
,, Gut", nickte sie leise und hielt tapfer meinen Augenkontakt. Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig vom einem Fuß zum anderen und überlegte, was ich sagen könnte. Sie nahm mir die Frage ab und fing von selbst an zu reden.
,, Ich habe ihnen nie etwas getan, habe sie nicht einmal angeguckt. Bin ihnen immer aus dem Weg gegangen und bin lieber durch die komplette Schule einen Umweg gegangen. Ich will, dass sie mich in Ruhe lassen", schluckte sie, hielt aber weiterhin meinen Augenkontakt. Ihre Stimme war trocken und heiser.
,, Ich weiß nicht was ich sagen soll, ehrlich... Das einzige was mir einfällt ist, dass wir unbedingt mit einem Lehrer, vielleicht sogar mit der Polizei reden müssen", schnitt ich das Thema leicht an und wartete ihre Reaktion ab.
,, Ich wusste gar nicht, dass Dr. Cullen dein Vater ist... Klar, ihr seht euch wirklich ähnlich aber... Ist er dein leiblicher Vater?" Olivia wechselte unerwartet das Thema und fühlte sich augenblicklich wohler. Die Erschöpfung, die man ihrem Gesicht vorher noch angesehen hatte, verschwand ein wenig und ihre Augen fingen interessiert an zu glitzern. Sie erinnerte sich daran, als sie bei mir Zuhause war und wir ausgelassen über meine Geschwister hergezogen hatten. Es schien sie glücklich zu machen. Ich war eher verwirrt.
,, Ich sehe ihm ähnlich? Inwiefern?", hackte ich nach.
,, Na ja, vor allem die Haut und die Augen. Noch viel mehr als bei deinen restlichen Geschwistern und deiner Mutt-, äh, Adoptivmutter. Du hast außerdem die exakt gleiche Haarfarbe und den selben Mund wie Dr. Cullen, von dem Lächeln will ich gar nicht erst anfangen. Du siehst ihm sehr ähnlich... ihr habt die selbe Ausstrahlung. Eine beruhigende, die sich mich wohlfühlen lässt", erklärte sie und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. Na gut, wenn es sie glücklich machte über meine Familie zu reden, wollte ich ihr das nicht abschlagen.
,, Ich sehe ihm wirklich so ähnlich?", fragte ich also nochmal und fühlte mich geschmeichelt. Carlisle wurde in den letzten Jahren zu einer Art Vorbild für mich und ihm ähnlich zu sehen war ein unglaubliches Gefühl.
,, Ja, ehrlich! Also, bist du wirklich mit ihm verwandt?"
,, Also ich denke mal nicht, wir kommen zwar beide aus Alaska aber... das kann nicht sein. Er lebt schon zu lange hier und Alaska ist definitiv nicht klein! Ich habe ihn auch erst vor ein paar Jahren kennengelernt, er ist nicht wirklich mit mir verwandt aber trotzdem ist er jetzt mein Vater", beendete ich meinen verwirrten Gedankengang mit einem Lächeln.
,, Dann bist du auf jeden Fall bei der richtigen Familie gelandet", stellte sie fest. Ich nickte zustimmend aber langsam fragte ich mich doch, warum sie das so interessant fand.
,, Wie steht es eigentlich um deine Familie? Deinem Vater?"
,, Oh, mein Vater arbeitet als Polizist. Er ist ein Kollege von Chief Swan, bloß sehr viel häufiger unterwegs. Dad wird immer auf Außeneinsätze geschickt, daher sehe ich ihn nicht ganz so oft", erzählte sie.
,, Dein Vater ist Polizist? Hast du ihm denn nie von den Jungs erzählt?", wollte ich schockiert wissen. Sie schüttelte den Kopf.
,, Falls man es mir angesehen hat, bin ich immer früher schlafen gegangen, bevor er nach Hause kam. Er wäre zu sehr in Sorge gewesen und hätte aus der Mücke einen Elefanten gemacht." Sie verzog das Gesicht unglücklich, was sie aber sofort ließ, als sie die dadurch entstandenen Schmerzen bemerkte.
,, Mücke? Das ist doch Quatsch... Dein Vater hätte alles dafür getan, dass du sicher zur Schule gehen kannst." Mit dieser Aussage war ich mir sicher, laut ihrer Gedanken war ihr Dad sehr fürsorglich.
,, Ich wollte ihn damit nicht belasten, er tut schon jetzt so viel für mich. Muss arbeiten und für mich da sein, da bleibt nicht viel Zeit", erwiderte sie überzeugt. Eigentlich wollte ich ihr widersprechen aber es klopfte an der Tür und Carlisle lugte hinein.
,, Olivia, dein Vater ist gerade angekommen."
Carlisle öffnete die Tür komplett und lies einen müde aussehenden Mann hinein. Er war etwas größer als Carlisle und trug eine Polizeiuniform. Seine Gesichtszüge waren angespannt aber trotzdem freundlich. Ich konnte Olivias Gesicht in seinem grob wiedererkennen, vor allem die Augen hatten den selben stechenden Grünton. Seine kurzen Haare waren an den Ansätzen schon etwas grau und stellten einen totalen Kontrast zu den rabenschwarzen Haaren. Die Haare hatte Olivia definitiv nicht von ihm geerbt, ihr hatten einen schönen Braunton. Ich schätze ihn auf Ende 40.
,, Olivia", hauchte er, ging zu ihr und strich ihr sanft über den Kopf. Beschämt senkte sie ihren Kopf.
Mehr bekam ich nicht mit, denn Carlisle bat mich aus dem Zimmer zu gehen. Er folgte mir und schloss dann die Tür hinter sich.
,, Ich muss weiter arbeiten, wir sehen uns heute Abend", versicherte er mir und lächelte zuversichtlich.
,, Dann bis später, Dad", verabschiedete ich ihn. Überraschenderweise kam plötzlich Esme auf mich zu.
,, Was machst du hier?", fragte ich verwundert und blickte dann auf die Klamotten und einem Päckchen in ihrer Hand.
,, Als ich erfahren habe, dass Olivia hier ist, habe ich sofort ihre Klamotten zusammengesucht. Ich hatte sie schon vor Tagen gewaschen, weil sie voller Matsch im Bad hingen", sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht. Olivias Klamotten hatte ich total vergessen, gut das Esme sich darum gekümmert hat.
,, Das ist gut, ihre Klamotten sind dreckig und bestimmt etwas kaputt, sie wird sich darüber freuen, etwas vertrautes zu haben."  Ich selber freute mich auch darüber, wenigstens etwas wollte ich Olivia geben können.
,, Und was ist in dem Päckchen?", hackte ich neugierig nach. Esme grinste verlegen.
,, Das sind Pralinen und Süßigkeiten. Schokolade soll gegen Trauer helfen."
,, Das ist wirklich eine super Idee... Olivia wird so etwas nicht erwarten. Bringst du es ihr mit Wünschen der Familie?" Das gefiel mir besser als würde ich es alleine hinbringen.
,, Natürlich, ich warte aber noch etwas ab, bis sie ihrem Vater alles erklärt hat."
,, Vielen Dank, Esme", bedankte ich mich ehrlich. Esme konnte sich gar nicht vorstellen wie viel mir das bedeutete.
Kurz darauf ging ich ins Wartezimmer. Dort saßen nun nicht mehr nur Paul, Seth und Emmett sondern auch ein kleiner, verschnupfter Junge mit seiner Mutter und ein älterer Mann mit einer Gehhilfe. Deshalb entschieden wir kurzerhand unser Gespräch nach draußen zu verlegen.
,, Wie geht es ihr?", fragte Seth als erstes.
,, Sie sieht nicht sehr gut aus aber ich denke, es ist gut, dass ihr Vater jetzt da ist."
,, Hat sie etwas über die Arschlöcher erzählt, die ihr das angetan haben?", wollte nun Paul wissen, seine Augen funkelten.
,, Nein, hat sie nicht", antwortete ich. Er ließ sich nichts anmerken, aber seine Gedanken spielten verrückt.
,, Carlisle hat gesagt, wir sollten nach dem Besuch nach Hause fahren. Wollt ihr mitkommen?" Emmett guckte fragend zu Seth und Paul, für mich stand es anscheinend fest, dass ich mitfuhr.
,, Ja, gerne", nickte Seth und strahlte. Wenn er dieses Grinsen drauf hatte, würde ich ihn am liebsten sofort drücken... Es war einfach zu süß.
,, Ach eigentlich... Ich werde alleine zurück ins Reservat laufen, mich reizt nichts daran im Haus voller Vampire zu sein. Bis später." Paul versuchte gelangweilt und desinteressiert zu klingen.
,, Na gut, bis später", Seth klopfte Paul einmal auf die Schulter und ging dann mit uns zu Emmetts Jeep. Emmett vertiefte Seth fast augenblicklich in ein Gespräch über Baseball. Da konnte ich nur den Kopf schütteln, das waren einfach Jungs.
Bevor ich einstieg drehte ich mich neugierig noch einmal um. Paul lief nicht in Richtung Wald, nein, er ging zurück ins Krankenhaus.

Ein Kampf um Respekt und Unsterblichkeit? -Die neue Cullen (Twilight fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt