23. zu schön um wahr zu sein

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d r e i u n d z w a n z i g

Nach einer lautstarken Auseinandersetzung auf New Yorks Straßen hatten wir uns schlussendlich dafür entschieden, dass ich doch mit hoch kam. Mit wir meinte ich Charles, der seine Argumentation vollends auf das kalte Wetter und meinen weiten Heimweg gesetzt hatte und damit - das musste ich leider zugeben - recht hatte.

"Ich sehe schrecklich aus.", murmelte ich leise und strich mir über die Augen. Ich konnte direkt fühlen, dass sie rot und geschwollen waren und aus Erfahrung wusste ich, dass nach einem Heulkrampf meine Wangen ebenso aufgequollen waren wie meine Augen. So wollte ich erst recht niemandem unter die Augen treten.
"Ach Quatsch.", murmelte Charles und drückte die Tür zu seinem Wohnkomplex auf. Seine Zähne klapperten hörbar aufeinander und das Geräusch ließ das schlechte Gewissen in meiner Brust stark anschwellen. Nur, weil ich unbedingt mit ihm diskutieren musste, waren wir länger als nötig draußen gestanden und jetzt würde Charles auf alle Fälle krank werden. Wegen mir.

Zögerlich folgte ich dem Mann in Mantel und nackten Beinen in den Aufzug, der uns in wenigen Minuten in das Stockwerk seiner Wohnung beförderte. "Jetzt freue ich mich wirklich auf etwas Warmes zum essen.", murmelte Charles, während er sich die Ärmel meines Mantels weiter über die kalten Finger zog. "Du solltest vielleicht schnell eine warme Dusche nehmen, damit dein Körper wieder wärmer wird.", schlug ich ihm besorgt vor. Ich wollte wirklich nicht, dass er sich erkältete. Charles Blick flog kurz zu mir, ehe der Aufzug mit einem Pling verkündete, dass wir unser Ziel erreicht hatten. "Kuscheln wir uns lieber mit dem Essen auf die Couch."

Überrascht sah ich vom Boden auf und starrte auf Charles Rücken, während er die Haustüre aufsperrte, die sich mit einem leisen Quietschen öffnete.
Charles wollte tatsächlich mit mir kuscheln. Das musste ein Traum sein. Das konnte nicht wahr sein.
Lag ihm vielleicht doch mehr an mir als nur Sex?

"Sally wird sich ins Gästezimmer verkrümelt haben. Sie hat vorhin gesagt, dass sie nicht dabei sein möchte, wenn wir auf dem Sofa übereinander herfallen." Er lachte leise und führte mich mit einer Handbewegung in seine Wohnung. "Du wirst sie also wahrscheinlich erst morgen kennenlernen."

Ich blinzelte mehrmals um seine Worte verstehen zu können. "Ich soll die Nacht hier verbringen?", platze es sodann gleich aus mir heraus, was Charles in leises Kichern entkommen ließ. "Ich würde mich freuen, wenn du hier bleiben würdest.", antwortete er mit einem ehrlichen Lächeln. Seine grauen Augen glänzen vertraut und wie so oft versank ich in ihrer Unergründlichkeit.
Wie konnte ich nur jemals denken, dass Charles Augen mich an Johns erinnerten?

Zögerlich nickte ich. Ich würde gerne bei ihm bleiben und die ganze Nacht in seinen Armen liegen, aber eben nur das. Irgendwie musste ich ihm verständlich machen, dass ich keinen Sex wollte, ohne prüde oder wie ein emotionales Wrack zu erscheinen.

"Fühl dich wie zuhause.", grinste der Hausherr und wirkte fröhlich. Es sprach mir sehr zu, dass er eine so gute Laune hatte und das offenbar nur, weil ich zugestimmt hatte, mit hoch zu kommen und die Nacht hier zu verbringen.

Als wir weiter in den Raum traten, fielen mir sofort die vielen Bilderrahmen an der Wand hinter seinem Sofa und die großen bemalten Leinwände, die an ausgewählten Stellen die Wohnung auf eine besondere Art huldigten, auf. Überrascht wanderte mein Blick durch das große Wohnzimmer mit der offenen Küche, wobei mir immer mehr kleine und große Leinwände ins Auge fielen. Acht, zehn, siebzehn Stück bestimmt.

Überfordert sprang mein Blick von Gemälde zu Gemälde, analysierte jeden Pinselstrich und jeden Farbkleks, wodurch der künstlerische Teil meines Gehirns gleich zu Hochtouren auflief und versuchte jede noch so kleine Gefühlsregung aus den Tableaus zu lesen.

unmoralisch ✓Where stories live. Discover now