Mavie - Windenbach

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Es gibt unendlich viele Geschichten auf dieser Welt. Etwa so viele, wie Sterne am Nachthimmel blinzeln.

Wenn ich euch aus der folgenden Geschichte eines mitgeben kann, dann ist es diese eine Sache: Geht vorsichtig durch die Welt! Denn man weiß nie, wann das eigene Schicksal plötzlich vor der Türe hockt und anklopft. Wenn es einmal da ist, wird es nicht wieder davonflattern. Es bleibt beharrlich auf einem sitzen, bis man sich ihm stellt...

Alles begann damit, dass Mavie in den Wald starrte. Und der Wald starrte zurück.


Aber lasst uns lieber ganz von vorne anfangen.

Genauer gesagt beginnt unsere Geschichte nämlich am Rand eines Waldes. Es war ein Wald, so dicht und so groß und so dunkel, dass kaum jemand, der darin lebte, sich daran erinnerte, dass es außerhalb des Waldes noch eine Welt gab. Und so gefährlich, dass sich niemals jemand je tiefer in ihn hineinwagte.

So ging es auch den meisten Bewohnern von Windenbach. Dieses kleine Dorf hatte seinen Namen von dem Bach, der von Westen aus den Bergen in den Wald hinein floss - und von den Winden, die nach Osten zu den Steppen wehten. Über den kleinen, ungeschützten Hügel, auf dem das Dorf lag, brausten diese Winde so stark, wie Winde in einem dichten Wald eben brausen können.

Die starken, unbiegsamen Äste der Bäume fingen den größten Teil der Winde ab und bremsten sie auf ihrem Weg. Die meisten dieser Äste waren schon mehrere tausend Jahre alt, was man manchmal spüren konnte, wenn man seinen Finger auf die Rinde legte.

Den Bewohnern von Windenbach kamen die Winde jedoch vor wie ein mächtiger Sturm. Besonders im Herbst. Zu dieser Zeit hievten sie schwere Steine auf die hölzernen Dächer ihrer hölzernen Hütten, damit sie nicht davonwehen konnten.

Die Lichtung von Windenbach umsäumte ein hoher Zaun. Er bestand aus hölzernen Speeren, denn ein anderes Material als Holz gab es nirgends in der Gegend. Sie waren scharf und dünn, und nur die geübtesten unter den Kindern schafften es, heimlich über ihn hinüber zu klettern. Der Zaun diente hauptsächlich dazu, die Wölfe fernzuhalten. Denn der Rest des düsteren Waldes zog sich zumeist in seine eigenen Untiefen zurück und ließ die Dörfer in Frieden. Solange man eben auch ihn in Frieden ließ. Nur die Wölfe hatten die Dörfer immer wieder überfallen - bevor man schließlich den Zaun gebaut und das Feuer gezündet hatte.

Das große Feuer war die zweite Waffe der Dörfler, mit der sie nachts ihr Dorf vor den Wölfen schützten. Seit die Wölfe vor hundert Jahren im Wald aufgetaucht waren, wahrscheinlich aus den Bergen im Westen ins Tal hinabgewandert, zündete man nun jeden Abend ein riesiges Feuer an. Nachts mussten je zwei Holzfäller wach bleiben und dafür sorgen, dass es nicht ausging.

Als man das Feuer zum ersten Mal gezündet hatte, hatte gerade ein eisiger Winter im Wald sein Unwesen getrieben. Man kann sich vorstellen, dass sich die Windenbacher schnell um es herumgescharrt hatten, um ihren kalten Hütten zu entkommen. Und dann hatten sie nach und nach begonnen, sich dort Geschichten zu erzählen, Abend für Abend für Abend. Irgendjemand musste wohl auch damit angefangen haben, Lieder zu singen. Meist waren es traurige Lieder, Lieder vom grausamen Rhythmus der Äxte und dem Rauschen der Blätter, von Schmerz, Hunger und Kälte. So hatte man es den ganzen Winter lang gemacht.

Aber es hatte den Windenbachern so gut gefallen, am Feuer zu sitzen, dass sie auch im Frühjahr nicht damit aufgehört hatten. Und nicht einmal im Sommer, als es im Dorf so heiß war, dass selbst die langen Schatten der Bäume kaum noch etwas ausrichten konnten. Nach weniger Zeit waren das Feuer und seine Geschichten schon so fest in der Tradition des Dorfes verankert gewesen, dass es eben einfach dazu gehörte. Es gehört zum Leben im Dorf dazu wie die bitteren Knollen und das Schlagen der Axt.

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