Mavie - Der Junge in der Höhle

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Diesmalkonnte sie sich ihre Hand nicht schnell genug vor den Mund halten. Sie schrieauf. Und dann rannte sie, so schnell, wie sie noch nie gerannt war.

Dicht hinter sich konnte Mavie ein leises Gebelle hören. Esmussten mindestens ein Dutzend sein. Sie glitten durch die Nacht, geschmeidigwie der Wind. Mavie stolperte, während sie rannte, Äste schlugen ihr insGesicht, sie prallte gegen Baumstämme.

Ihr Herz raste. Es machte nicht viel aus, dass sie nichtssehen konnte. Vor Panik wäre sie so und so wie blind gewesen. Die Wölfe dagegenverließen sich auf ihre Nasen und Ohren und fanden sich in der Finsterniszurecht, als seien sie ein Teil von ihr. Sie verfolgten Mavie von allen Seiten,bis sie links und rechts dicht neben ihr waren. Dicht neben ihrem Bein hörtesie eine Schnauze nach ihr schnappen. Genau in dem Moment, als sie dachte, nunsei es um sie geschehen, stolperte sie. Aber diesmal landete sie nicht in einerweichen Mulde. Sie flog durch die Luft und landete auf harter Erde. Harter,rutschiger Erde. Mit dem Kopf voran rutschte sie einen Hang hinunter. Und bevorihre Hände nach Halt suchen konnten, landete sie zum zweiten Mal auf feuchtem,erdigen Boden. Dem dumpfen Klang nach zu urteilen mitten in einer Höhle. Mavieblieb angespannt liegen und lauschte. Sie musste einige Astlängen weit nachunten gerutscht sein. Denn das Scharren von Wolfspfoten und das leise Bellendrang gedämpft an ihr Ohr. Es entfernte sich und kam wieder näher.

Sie suchten nach ihr.

Einige Minuten lang hörte die Wölfe oben scharren undbellten und winselten. Es ging und ging nicht weg. Würden sie nie aufgeben?

„Wie lange werden die noch da oben rumlungern, Krächz?",murmelte sie, kaum lauter als das Wispern des Windes, und strich dem Raben miteinem Finger über den Rücken. Sein kleiner warmer Körper fühlte sich tröstlichan, so ganz allein in dieser kalten, finsteren Höhle. Krächz krächzte leise zurAntwort. Er schien es auch nicht so genau zu wissen.

Der Eingang der Höhle musste ziemlich eng sein. Oder aufeine Art verschlungen, dass die Wölfe nicht direkt riechen konnten, wohin genausie verschwunden war. Sonst hätten sie sie längst gefunden. Mavie wagtejedenfalls nicht, sich zu bewegen. Sie durfte jetzt nur ja kein Geräusch vonsich geben. Auf einmal kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Vielleicht waren sie jaschon längst hier? Vielleicht schlichen sie sich bereits den Eingang herunter,unsichtbar in der Finsternis?

Doch niemand überfiel sie aus dem Nichts heraus. Und mit derZeit wurde das Winseln und Scharen und Tapsen von Draußen immer leiser undleiser, bis es völlig verstummte.

Eine ganze Weile lang blieb Mavie noch liegen und lauschte,bis sie sich traute, aufzuatmen. Erst dann begann sie, sich über ihrunglaubliches Glück zu wundern. Sie war wahrscheinlich in den einzigen Ort imganzen Wald hineingerutscht, der sie hatte retten können! Wie wahrscheinlichwar es, mitten in der Nacht diese Höhle zu finden? Was war das überhaupt füreine Höhle? Sie setzte sich auf, immer noch darauf bedacht, kein Geräusch zumachen, und sah sich um. Was nicht besonders viel brachte, da es jastockfinster war. Plötzlich kam sie sich ziemlich dumm vor, dass sie sich überdie Höhle gefreut hatte. Eine Höhle, lang genug, dass sie darin ausgestrecktauf dem Bogen liegen konnte, mitten im Waldboden... und auch noch gut genugversteckt, dass die Wölfe nicht einfach so hereinfinden konnten. Ihr Herz, dasssich gerade ein wenig beruhigt hatte, begann, wieder lauter zu schlagen. Nervöstastete sie nach der Decke. Doch egal, wie weit sie die Finger ausstreckte, siekonnte sie nicht erreichen. Was war das hier? Wie groß musste das Wesen sein,das hier lebte? Mavie dachte an die Legenden über den Kolim oder dieRiesenfledermäuse... Wahrscheinlich war sie den Wölfen entkommen, um direkt vordie Schnauze eines viel größeren, schrecklicheren Wesens zu stolpern. Unruhigstarrte sie in die Finsternis. Vielleicht waren die Bewohner des Bausausgeflogen. Oder auf der Jagd. Oder – erleichtert atmete sie auf –wahrscheinlich waren sie bereits tot. Wenn jemand hier wäre, hätte er Maviedoch gehört. Und er hätte sie bestimmt nicht einfach so in sein Zuhause platzenlassen.

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenWhere stories live. Discover now