Mavie - Der Ruf des Waldes

15 7 1
                                    

An diesem Abend zog Mavie ihre Kapuze tief ins Gesicht, als sie hinunter zum Feuer ging. Natürlich hatte man sie mit kurzen Haaren nun noch viel mehr angestarrt. Als sie am Nachmittag zum Brunnen gegangen war, hatten sich alle Köpfe nach ihr gedreht. Arx war sie heute bewusst aus dem Weg gegangen. Ihr Kopf fühlte sich leicht und frei an. Der Wind bließ ungewöhnlich kühl um ihre Ohren herum.

Sie verstand inzwischen selbst nicht mehr, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte. Als ob es irgendetwasnutzen würde, sich die Haare zu schneiden. Die Menschen im Dorf waren so oderso überzeugt, dass sie nicht die Tochter ihres Vaters war. Und jetzt sah sienoch dazu aus wie ein Junge. Sie hätte zumindest warten können, bis es wärmer wurde.

Unz grinste ihr zu, als sie an die Rundeherantrat. Ausgerechnet heute waren fast alle versammelt. Die Windenbacher drängten sich eng zusammen auf den Strohballen und Baumstämmen. Es war kaum noch ein Platz frei. Sie senkte den Kopfund sah nicht auf, während sie sich setzte. Dankbar für das schwache Licht derFlammen zog sie die Kapuze ihres Umhangs noch ein wenig weiter über dasGesicht. Sie sah in die Runde und stellte erleichtert fest, dass niemand etwasbemerkt hatte. Nur Warna blickte sie ein wenig befremdlich an. Kenja kletterteauf ihren Schoß und legte müde seinen Kopf auf ihre Schulter. „Na, Großer?",murmelte sie. „Soll ich dich ins Bett bringen?" Er schüttelte den Kopf, wobeiseine Haare ihren Hals kitzelten, und gähnte.

„Mavie, Kind!", sagteMaidl. „Reich mir mal einen Schluck Bitterbier rüber!"

Auf den Steinen um dasFeuer herum stand ein großer Krug mit dem bitteren Gebräu aus dem Saft derDornbeeren. Sie waren so giftig, dass man sie nicht einmal berühren durfte.Aber ließ man sie lange genug gären, konnte man den Saft trinken.

Mavie seufzte. Sieerhob sich und nahm sich den Griff des großen Löffels. Ohne den Blick von denFlammen zu lassen, trat sie vorsichtig näher an den Krug heran. Und dannschnell wieder zurück, um einem Funken auszuweichen. Sie unterdrückte einKreischen. Doch sie zwang sich dazu, zum Kessel zu gehen und den Löffel in ihn hineinzutauchen. Dabei schirmte sie mit ihrem freien Arm ihr Gesicht ab. Hastig entfernte sie sich wieder vom Feuer und hielt Maidl den vollen Schöpfer hin. Er war natürlich aus Holz geschnitzt worden. Sie half der alten Frau, an dem Gebräu zu nippen, bis der Löffel leer war. Dann setzte sie sich zurück auf ihren Platz.

"Danke, mein Kind", brummte Maidl. "Zeit für eine Geschichte!"

Sofort verstummte das Geraschel und Getuschel auf allen Strohballen. Nur das leise Brausen des Herbswindes und das Knistern der Flammen blieb übrig.

"In der Geschichte der Dörfer", begann Maidl, "gab es immer wieder Menschen, die den Ruf des Waldes hörten. Es war ihnen, als zöge der Wald sie an. Und einer von diesen Menschen war Borg, der Abenteurer. Über ihn will ich euch berichten." Borg, der Abenteurer... Mavie versuchte sich zu erinnern, ob sie diese Geschichte schon einmal gehört hatte. Aber ihr fiel nichts ein. Gespannt rutschte sie ein Stück weiter nach vorne. Und sie spürte wie Unz neben ihr das Gleiche tat.

"Borg, der Abenteurer, lebte zur Zeit der Jäger. Doch zu dieser Zeit gab es wenige Jäger. Mirus, der König von Übersee, hatte sich mit den Feinden Endiars verbündet und war in das Land eingefallen. Es gab große Kämpfe im ganzen Land und der Adler rief die Jäger, um sie in den Krieg zu führen. Er dauerte ein dutzend Jahre lang. In diesen Jahren war der Wald unbewacht und seine Geschöpfe taten, was sie wollten. Die Bäume wuchsen immer dichter an die Dörfer heran und bedrängten sie. Schreckliche Gestalten überfielen die Menschen. Hin und wieder wagte sich einer in den Wald. Doch immer öfter kehrten sie von diesen Reisen nicht zurück und die Menschen merkten, dass sie nicht mehr sicher waren. So zogen sie sich immer mehr zurück.

Doch auch in den Dörfern waren sie nicht sicher. Der gefürchteteste aller Schrecken des Waldes war zu dieser Zeit Korak. Korak war riesengroß. Seine Haut waren dunkelgrüne Schuppen in der Form von Blättern. Wenn sie sich aufstellten, schützten sie ihn wie Stachel einen Igel. Seine haarigen Beine und Arme erlaubten es ihm, sich durch die Bäume zu schwingen wie die Messeraffen aus dem gefährlichen Turum-Wald. Seine Hände und Füße waren mit Krallen versehen, die sich durch die Rinde bohrten. Wie jedoch sein Gesicht aussah, kann bis heute niemand beschreiben. Denn hatte es einer gesehen, war es bereits zu spät. Als Korak merkte, dass er im Wald keine Menschen mehr fand, begann er, die Dörfer anzugreifen. Einmal raubte er Melin, ein junges Mädchen aus einem Dorf, um sie zu seiner Braut zu machen. Melin war Borgs Verlobte. Borg wollte losziehen, um sie aus seinen Fängen zu retten. Doch man erlaubte es ihm nicht. Man sagte: 'Was willst du? Melin ist tot! Du kannst ihr nicht mehr helfen! Wenn du den Korak angreifst und ihn wütend machst, kommt er zurück, zerstört unsre Häuser und tötet uns alle!'

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenWhere stories live. Discover now