Mavie - Das Zischeln der Flammen

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Mitten in der Nachtwurde Mavie wach. Sie hatte ein Geräusch gehört. Aber als sie in die Dunkelheithineinlauschte, konnte sie nichts mehr davon hören. Wahrscheinlich einAlpträumer, dachte sie. Mit ihrem unruhigen Schlaf und ihrem laut schlagendenHerz heute musste sie für die Falter besonders leicht zu finden sein. Sieseufzte.

Laris Eltern und dieanderen, die ihre Söhne verloren hatten, mussten gerade beim Feuer unten sitzenund die Trauerwache halten.

So machte man es inWindenbach, wenn einer Familie etwas passiert war.

Das war die eiserneRegel im Wald: Zeit zum Trauern hatten die Windenbacher nicht. Schon gar nichttagsüber. Sie waren damit beschäftigt, zu überleben. Nur eine Nacht bliebihnen. Eine einzige Nacht, in der sie traurig sein durften, in der der Schmerzsie übermannen durfte. Eine Nacht, die man den Verlassenden schenkte. Mehrkonnte man ihnen nicht geben.

Doch plötzlich hörtesie wieder ein Geräusch. Und dann schwang, leise knarzend wie immer, die Türeauf. Arx trat hindurch. Ausgerechnet Arx, wunderte sich Mavie. Er ging dochsonst immer so früh ins Bett! Er erstarrte auf der Türschwelle, als erbemerkte, dass sie ihn entdeckt hatte.

Dann ging er eilig zuihr hinüber. Seltsamerweise achtete er überhaupt nicht darauf, leise zu sein.Im Nachhinein dachte Mavie sich oft, dass sie das hätte misstrauisch machenmüssen.

„Steh auf!", flüsterteer, viel zu laut. „Schnell! Zieh deinen Umhang über!"

„Warum?", flüsterteMavie zurück. „Was ist los?"

„Mach es einfach",zischte er ungeduldig. Langsam setzte Mavie sich auf. Sie konnte im Mondlichtnicht genau sehen, was er tat. Aber es wirkte so, als würde er etwas in einenBeutel stopfen. Dann bückte er sich, hob eines der Bretter vom Boden an und zogetwas darunter hervor. Er stopfte es ebenfalls in den Beutel. Mavie zogbehutsam ihren Umhang von Kenja herunter und warf ihn sich über. Hätte sie ihndoch noch einmal geküsst! Oder ihm zumindest über die Wange gestreichelt.Stattdessen dachte sie nur: Hoffentlich wird er nicht von der Kälte aufwachen!Ärgerlich drehte sie sich zu Arx um. „Was ist los?", flüsterte sie noch einmal.

Arx drückte ihr stummseinen Beutel in die Hand. Ohne eine Erklärung. Da hörte Mavie wieder dasGeräusch. Diesmal lauter und näher. Es war das Geräusch stapfender Füße imMatsch. Und noch ein Geräusch. Ein Geräusch, von dem sie selbst dann nochaufwachen würde, wenn so leise war wie ein Grashalm im Wind. Das Knistern vonFlammen.

Sofort schlug MaviesHerz schneller. Sie griff in das Laub hinein und suchte eilig mit ihrer Handdarin herum. Bis sie, zum zweiten mal heute, das glatte Holz der Armbrustspürte. Ohne nachzudenken, zog sie die Waffe heraus. Die Schritte waren fastbei der Hütte angekommen. Der rötlich-flackernde Schein von Feuer drang durchdie Ritzen des Holzes in die Hütte hinein. Mavie trat die Tür auf. Jetzt war esihr egal, ob jemand aufwachte.

Was war hier los?

Als sie hinausblickte,wurde ihr übel. Fast das ganze Dorf war auf den Beinen. Sie waren auf dem Wegzu ihrer Hütte. Und jeder einzelne trug eine grausam zischelnde, hell loderndeFackel in der Hand.

Als die Windenbachersie sahen, hielten sie kurz inne. Aber Mavie verlor nicht den Bruchteil einerSekunde. Die Armbrust in einer, den Beutel in der anderen Hand, sprintete sielos, so schnell ihre Füße sie tragen konnten. Der beißende Geruch von Rauchstieg ihr in die Nase. Die Welt verschwamm vor ihren Augen.

Der Geruchmischte sich mit dem altbekannten Gefühl aus einer schrecklichen Erinnerung.

Mavierannte und rannte. Nein, nein, nein, dachte sie.

Dochdie Bilder loderten vor ihren inneren Augen, hell und scharf wie Feuer in derNacht. Sie lief aus dem Wald auf das Dorf zu, Unz an ihrer Seite. Da entdecktensie auf einmal, dass Rauch über den Dächern aufstieg. Mavie rannte schneller,sodass Unz weit hinter ihr zurückblieb. Dann blieb sie keuchend stehen. Überallwaren Pferde. Die Reiter.

Sieversteckte sich hinter einer Hütte und spähte um die Ecke. Und dann sah sie dasSchrecklichste auf der ganzen Welt.

Die Meute rannte hinterMavie her. Sie waren dicht hinter ihr. Mavie konnte die Hitze in ihrem Nackenspüren. Es war unerträglich. Das Zischeln des Feuers wurde immer lauter. Wievon Sinnen rannte Mavie. Sie rannte um ihr Leben.

Flammen. ÜberallFlammen. Das war ihr einziger Gedanke.

Sie konnte nicht mehrsehen, was um sie herum passierte.

Die Szene, die sicheinst hinter ihre Lider gebrannt hatten, flammte wieder auf.

All die Flammen.Schreie. Laute Rufe ihres Vaters. „Nein!", rief Mavie. „Nein!" Ihre Mutter, dieauf ein dunkles, fast schwarzes Pferd gezerrt wurde. Überall Flammen. Darunterdie rauchende Asche ihres Zuhauses. Der winzige Kenja in ihren Armen. Warna,die sich an ihre Hand klammerte. Alle starrten dem Pferd hinterher, das Echodes Schreckens in den Ohren.

Aber am hellstenbrannte dieses Grinsen. Dieses schreckliche Lachen. Und dann diese heißere,metallene Stimme, die Mavie nie vergessen würde. „Das passiert, wenn manversucht, dem Reiter seine Beute zu rauben!"

Danntraf Mavie die mutigste Entscheidung, die je ein Mädchen in ihrem Altergetroffen hatte. Sie tat es für Kenja. Für den kleinen Kenja, den ihr ihreMutter damals in den Arm gedrückt hatte. Der so etwas wie ihr eigenes Kindgeworden war.

DasBündel fest umklammert wie ein Rettungsseil, schlug sie die vertraute Richtungein. Aber diesmal mit einem anderen Ziel. Diesmal würde sie tief in den Waldhineinrennen. Und nie mehr wiederkommen.

DieWindenbacher rannten ihr hinterher, bis sie am Zaun angekommen war. Dortblieben sie stehen. Sie hatten nicht vorgehabt, ihr wirklich etwas zu tun. Siewollten nur, dass Mavie verschwand. Etwas Anderes blieb ihr nicht übrig, wennsie Kenja schützen wollte. Mavie rannte geradewegs in den Bach hinein. Dasrauschende, pechschwarze Wasser war so kalt, dass es wehtat. Doch obwohl Maviekeine Hitze spürte, hatte sie panische Angst, dass die Flammen sie berührthaben konnten. Erst, als sie ihren Kopf in das Wasser getaucht hatte, klettertesie zitternd wieder heraus. Und dann rannte sie weiter. Weg. Nur weg, weg, wegvon diesen Flammen.


Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon