Prinzessin Dilara - Die fünf goldenen Türme

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Die Geschichte Ihrer Majestät, Königin Dilara, der Weisen, aufgeschrieben von Morelius, seiner Zeit oberster Geschichtsschreiber in ganz Endiar, beginnend im letzten Herbst des Zeitalters der Nachtigall, ein Jahr vor dem Zeitalter des Adlers.

"Niemandem im ganzen Land, in dieser oder einer künftigen Zeit, dürfte der Name von Königin Dilara, der Weisen und Unbestechlichen, unbekannt  geblieben sein. Wir, das gesamte Volk Endiars, kennen und ehren sie für die große Weisheit, die ihr geschenkt worden ist. Doch kaum jemand kennt die Geschichte, die sie mich, Morelius, derzeit oberster Geschichtsschreiber Endiars, bat, aufzuschreiben. Die Geschichte, wie sie zur Königin geworden ist.

Denn – und ich wage es kaum, diese Worte aufzuschreiben ,doch unsere geliebte Majestät, Königin Dilara persönlich, verpflichtete mich, die gesamte Wahrheit zu berichten und nichts auszulassen. Und deshalb muss ich auch berichten, dass unsere Königin, die unser Volk nun seit sieben Jahren regiert, nicht immer von solcher Weisheit gewesen ist. Wie uns allen bekannt ist, ist sie aufgewachsen als Tochter der gefürchteten Miranda, einst genannt Königin Miranda die Schwarze, die gefürchtetste Königin in der gesamten Geschichte unseres geliebten Landes. Sie, die den schwarzen Regen über Endiar brachte. Und auch Prinzessin Dilara sollte als eine ebenso gefürchtete Königin einst ein mächtiges Reich beherrschen. In dem Jahr, für das ihre Vermählung mit dem heutigen Kriegsherren Cyrian vorgesehen war, begann jedoch eine Entwicklung, die niemand vorherzusehen vermochte als einzig der große Adler selbst. Groß sind seine Werke in Endiar und groß waren seine Wunder in jenen Tagen!

Fragt man Ihre Majestät, so begann ihre Geschichte an jenem gewöhnlichen Tag, als sie das erste Mal von der Prophezeiung hörte... Doch lassen wir sie nun selbst zu Wort kommen.


Egal wie prächtig das goldene Schloss in der großen Stadt sein mochte, so war der Morgenhimmeldarüber doch ebenso grau und düster wie überall sonst in Endiar.

Pechschwarze Wolkenzogen von der Fabrik in einem entfernten Stadtviertel in Schwaden zwischen denfünf goldenen Türmen hindurch. Früher einmal hatten diese fünf Türme wohlgolden geglänzt und heller gestrahlte als die Sonne. So jedenfalls wirkte esauf all den Bildern – den neuen und den alten. Aber jetzt wirkte dasWahrzeichen Endiars düster und alt im grauen Lichtschatten des Mondes Pailur.

Und genauso düster wardie Stimmung von Prinzessin Dilara. Sie starrte in ihr Spiegelbild, das sich,in flackerndem Kerzenschein vor dem dunklen Hintergrund der Wolken abzeichnete.Die Ellbogen hatte sie auf das Fenstersims gestützt.

Von ihrem Gemach ausging es einige Stockwerke nach unten in die Tiefe. Wie oft in ihrem Leben hattesie diesen Anblick schon gesehen? Es war immer derselbe, seit sie vier Jahrealt geworden und in dieses Zimmer gezogen war. Etwas anderes kannte sie nichtvon der Welt.

Die Prinzessinbetrachtete ihr blasses Gesicht. Es ist so blass, weil ich so unglücklich bin,dachte sie. Sie versuchte zu erkennen, ob ihre Augen noch immer rot unterlaufenwaren. Gestern abend hatte sie im Bett geweint.

Schon seit Anfangdieses Jahres schon war ihre Stimmung nur noch düster gewesen. Und mit jedemMond, der verging, war es schlimmer geworden. Nun gab es kaum noch etwas, wasihr Freude bereiten könnte: Nicht ihre Touren durch das Schloss, bei denen siedie unendlich vielen Gänge erkundete, nicht, wenn sie dabei einen geheimenentdeckte, nicht die Trauben mit Sahne und Zuckerschnee auf ihrem Bufett, nichtdie ausladenden bestickten Kleider und schon gar keine Bälle, Wettkämpfe oderVersammlungen mehr. Obwohl mindestens zehn Angestellte des Hofes, Mägde undDienstmägde, Ammen, Diener, Köche und Dienste, die keinen Namen trugen, dafürzuständig waren, sich um Dilaras Wohl zu kümmern, konnte sie keiner aus ihrerschlechten Laune herausreißen.  

Dieses Jahr war viel zuschnell vergangen. Es war an ihr vorbeigezogen wie ein Wirbelsturm. Oder ein zukurzer Umzug mit zu wenigen Kutschen. Einer dieser Umzüge, wo man vergeblich indie Ferne spähte, um noch weitere kunstvolle Wägen mit bunt gekleidetenSchaustellern zu entdecken... doch es kamen keine. Und Dilara blickte derletzten Kutshce mit Gram und Wehmut entgegen. Genauer gesagt der letzten Woche.Der letzten Woche vor ihrem Geburtstag. Morgen würde sie beginnen. Nur achtganze Tage lagen zwischen ihr und diesem schrecklichen Tag.

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenWhere stories live. Discover now