Mavie - Die Augen des Waldes

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Mavie musste schoneinige Stunden lang gerannt sein. In der Finsternis stolperte sie über eineWurzel. Sie landete auf ihrem Bauch. Unter sich spürte sie Tannennadeln undweiches Moos. Und dann stellte sie fest, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen.Langsam wurde ihr Kopf wieder klarer. Völliges Dunkel umfing sie. Sie lauschtein die Stille hinein. Einige Sekunden. Dann einige Minuten. Es war keinGeräusch zu hören.

Sie war vollkommenallein. So allein wie noch nie jemand in dieser Welt gewesen war.

Sie lag irgendwo mittenim finsteren Wald, zu erschöpft, um auch nur den kleinen Finger zu bewegen.Aber noch wach genug, dass ihr klar wurde, dass sie keine Ahnung hatte, wo siehingelaufen war. Hätte sie nur auf ihre Richtung geachtet! Sie hätte sie sichnur nicht von der Panik übermannen lassen! Sie kannte tausend gute Verstecke imWaldrand, wo sie sich einen Unterschlupf bauen und schlafen hätte können!Vielleicht hätte sie dort sogar eine Chance gehabt, zu überleben. Aber jetztlag sie dort am Boden, irgendwo, wo wer weiß was lebte, völlig schutzlos undausgeliefert!

Ihr Herz schlugschneller vor Angst. Hatte sie den Waldrand bereits verlassen? War sie in denTiefen Wald hineingeraten? Wie viele Stunden war sie gerannt? Alles in ihr zogsich zusammen.

Aber es hatte keinenSinn sich darüber Gedanken zu machen, solange sie weder etwas sehen noch sichbewegen konnte. Ihre Kehle brannte vor Durst.

Ein Gedanke, kälter alsdie Nacht, legte sich um ihr Herz. Würde sie diese Nacht überleben? Bestimmthatte sie beim Laufen einen riesigen Lärm gemacht. Es war ein Wunder, dass sienoch kein Tier angegriffen hatte. Wie viele Tage blieben ihr noch?

Sie zuckte zusammen,als sie neben ihrem Ohr eine Bewegung spürte. Dann spürte sie Federn nebenihrem Kopf. Es war der Rabe. Erleichterung durchströmte sie. Und Wut.

Er hatte sie in dieseSituation gebracht. Das war alles seine Schuld! Wegen ihm hatte siewahrscheinlich nicht mehr lange zu leben. Und nun musste sie ihre letzten Tageausgerechnet mit ihm an ihrer Seite verbringen. Denn sie war jetzt eineVertriebene. Heimatlos im Wald.

Mit diesem Gedankenschlief sie ein.

In dieser Nacht hatteMavie einen Traum. Als sie wieder aufwachte, konnte sie sich nicht mehr an ihnerinnern. Doch später, viel später, hatte sie ähnliche Träume, in denen siesich wieder an diesen Traum erinnerte.

Er leuchtete heller undschien lebendiger als alle anderen Träume, die sie bisher gehabt hatte.

Naja, der Anfangleuchtete nicht besonders hell. Mavie stand mitten in der Finsternis. Aber amRauschen der Blätter im Wind konnte sie erkennen, dass sie im Wald stand. Nebenihr hörte sie etwas knacksen. Und in weiter Ferne ein leises Heulen. Mavieballte ihre Hände zu Fäusten. Wenn sie nur etwas erkennen könnte!

Als hätte jemand ihrenWunsch gehört, tauchte oben am Himmel auf einmal ein blendendes Licht auf. Mitder Geschwindigkeit eines Raubvogels stürzte es sich auf sie herab. Und dannwurde der Wald in so gleißende Helligkeit getaucht, dass sie fast noch wenigersehen konnte als zuvor. Sie schirmte ihre Augen ab. Ein Schrei rutschte durchihre Lippen.

„Fürchte dich nicht!",sagte auf einmal eine tiefe Stimme. Sie fuhr herum. Langsam wurde das Lichtweniger und weniger hell, sodass sie es schließlich wagte, den Arm von ihremGesicht zu nehmen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, zu erkennen,wer da vor ihr stand. Es war ein riesiger Adler. Das viele Licht schien ihnnicht zu stören. Und er schien sprechen zu können.

„Fürchte dich nicht!",sagte er noch einmal. Und obwohl sich sein Schnabel dabei nicht bewegte, wussteMavie ganz sicher, dass er es war, der das sagte. Die tiefe Stimme passte genauzu dem großen, geschmeidigen Körper. Sie klang ebenso mächtig, wie dieser Adleraussah. Und ebenso geschmeidig, wie seine Federn es im Wind sein mussten.

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenWhere stories live. Discover now