Dilara - Verfaulte Eier

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Bleib ruhig, sagte sich Dilara. Sie befürchtete, die Wand in ihrem Rücken würde sie irgendwann plötzlich auf die Straße hinab schubsen. Ihr war schwindelig. Alles begann sich zu drehen. Sie würde hier nie mehr lebend herunter kommen.

Konzentrier dich. Konzentrier dich auf... auf irgendwas. Sie ließ ihren Blick schweifen. Er blieb an einem Wachmann hängen. Eine Kutsche hielt gerade vor ihm. Seine Rüstung glänzte in der Sonne. Er trug den roten Mantel eines Soldatenhauptmannes. Bilder tauchten in ihrem Kopf auf. Als kleines Mädchen hatte sie oft zugesehen, wie die Soldaten in Richtung Trinland zogen. In den letzten Jahren war es ruhig gewesen um ihr Nachbarland. Aber früher hatte es viele große Schlachten gegeben. Dann war Dilara ganz oben auf dem höchsten Turm gestanden und hatte von dort aus zugesehen, wie die Truppen sich formierten. Zuerst in riesigen Vierecken aus lauter kleinen Punkten. Und dann - nach vielen Fanfaren und Ausrufen - zu sehr langen Rechtecken, die wie ein Güterzug auf seinen Gleisen die Spiralstraßen entlangzogen. Sie war so hoch oben gewesen, dass der Wind sie beinahe umgeweht hatte. Hinter sich konnte sie noch die entsetzten Schreie ihrer Amme hören, als sie auf die Zinnen kletterte und nach vorne lehnte, um besser sehen zu können. Sie hatte kein bisschen Angst gehabt. Am liebsten wäre sie am Turm herumgeturnt. Ihre Amme hatte sie immer "kleine Abenteuerin" genannt. Das war seeehr lange her. Die Kutsche bewegte sich und gab den Blick auf den Wachmann frei. Er musste spüren, dass sie ihn beobachtete. Auf einmal hob er den Kopf. In diesem Moment ging ein Ruck durch Dilara. Es kam wieder Leben in sie. Sie sah hastig von der Wache weg. So fest sie konnte, biss sie die Zähne zusammen und schob sich langsam weiter. Komm schon. Noch ein Stück. Du schaffst das. Und jetzt setz einen Fuß auf das Dach. Siehst du, geschafft. Schnell, um die Ecke, bevor er dich entdeckt. Dilara verschwand im Schatten des Anbaus und hielt sich so still sie konnte. Dem Himmel sei Dank. Sie hatte es überlebt. Hoffentlich war Le vorsichtig! Wenn sie ihn nur warnen könnte! Sie wagte es nicht, zum Wachmann nach unten zu sehen.

Im nächsten Augenblick tauchte Le neben ihr auf.

"Hat dich jemand entdeckt?", wisperte sie. Er schüttelte den Kopf. Erleichtert atmete die Prinzessin auf. Das war knapp gewesen.

"Ich dachte schon, du bewegst dich nie mehr", flüsterte Le entnervt.
"Sei still! Da unten war ein Wachmann, der hat mich vielleicht gesehen!"

Le spähte nach unten. Eine Weile bewegten sie sich beide nicht. Es war eine ziemlich lange Weile.

"Es sieht niemand hoch", flüsterte Le dann.

"Zum Glück. Ich fühl mich trotzdem nicht wohl mit der Sache. Lass uns verschwinden."

Sie sah sich suchend um. "Wohin jetzt!"

Dann fiel ihr auf, dass kein Dach an ihres angrenzte. Sondern nur zwei Meter gähnende Leere. Ihr Herz sackte in ihren Magen hinab. Das durfte nicht wahr sein.

"Wir müssen da rüber." Les Kinn deutete zu dem Haus gegenüber. "Dann haben wir es geschafft."

"Was? Aber..." Nie im Leben würde sie es schaffen, zwei Meter weit zu springen.

"Danach wird es besser, versprochen."

"Wie willst du das anstellen?"

"Ich lege mich über den Spalt und du kannst über meinen Rücken gehen."

Dilara starrte ihn an. Le verdrehte die Augen. "Was denkst du denn, springen natürlich. Oder hast du ein Seil dabei?" Doch jetzt klang selbst er nervös.

Selbst wenn sie eines hätte, hätte sie bestimmt nicht darauf balancieren können.

"Du bist vollkommen wahnsinnig."

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenWhere stories live. Discover now