Mavie - Etwas Seltsames geschieht

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An diesem Tag trieb Mavie eine seltsame Unruhe umher. Jene Art von Unruhe, die einen aufwühlte, wenn man spürte,dass bald etwas geschehen würde, das alles veränderte. Dieses Gefühl hatteMavie den ganzen Tag über nicht losgelassen. Aber jetzt, am Lagerfeuer, war esso unerträglich stark geworden, dass sie nicht mehr stillsitzen konnte.

Sie hatte heute etwasSeltsames getan. Bevor sie hierhergekommen war, war sie noch einmal in den Waldgegangen. Es war schon fast dunkel gewesen. Dennoch hatte sie sich ganz alleinein den Wald geschlichen, bis zu der Eiche. Und dann hatte sie die Armbrust ausihrem Versteck unter den Blättern geholt, einen ganzen Haufen von Unz' mühevollgeschnitzten Pfeilen genommen und unter ihren Mantel geschoben.

Sie konnte sich selbstnicht erklären, weshalb sie das getan hatte. Außer mit dem komischen Gefühl,dass sie sie bald brauchen würde. Und zwar viel dringender als Unz.

Sie hatte sie unterihren Blättern in der Hütte versteckt und dann war sie zumLagerfeuer geschlendert.

„He Mavie, kommrüber!", begrüßte Laris sie fröhlich. Unz neben ihm winkte ihr zu.

Mavie versuchte, ihrschlechtes Gewissen zu überspielen. Vielleicht hätte sie Unz doch fragen sollen. Aber was hätte sie sagen sollen? 'Es is was Seltsames passiert, das ich dir nicht erklären kann. Jetzt hab ich ein ungutes Gefühl und deshalb muss ich mir die Armbrust leihen?'

Sie versuchte noch einenPlatz zu finden, der weit genug von den Flammen weg war, dass sie sich sicher fühlte. Trotz der eisigen Kälte diesesHerbstabends war ihr alles lieber als die Nähe dieser zischelnden Schlangen.Sie beobachtete sie misstrauisch, während sie nachdachte. ‚In der Geschichte derDörfer gab es immer wieder Menschen, die der Wald gerufen hat', hatte Maidlgestern gesagt. Es bestand kein Zweifel. Heute hatte der Wald sie gerufen. Sie dachte an all die Geschichten, dieihr erzählt worden waren. An die schrecklichen Dinge, die im Wald lauerten...Vielleicht hatte Unz ja recht und diese ganzen Wesen sind längst ausgestorben,dachte sie. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte.

Denn als Kind war sieeinmal einem dieser Wesen begegnet.

Sie war alleine zumWaldrand gerannt. Sie hatte sich mit Arx gestritten und wollte alleine sein. DerWald hatte sie damals unheimlich fasziniert. Also wollte sie auf einen derBäume klettern und sich dort auf einen Ast setzen. Da war plötzlich eine großeGestalt vor ihr gestanden.

Es war ein riesiger,weißer Hirsch gewesen mit einem Geweih in einer Farbe, edler als Gold. Er hattesie mit einem sanften und traurigen Blick angesehen, als würde er bereits alldas Leid kennen, das sie auf dieser Welt erwarten würde. Als wüsste er genau,wer sie war. Fast genau wie dieser Rabe. Mavie rutschte unbehaglich auf demBaumstamm herum.

Zu diesem Zeitpunkt jedenfallsschien es ihr, als ob es in einer Welt, wo es so einen Hirsch gab, überhaupt keinLeid geben könne.

Das war der Nachmittaggewesen, an dem sie nach Hause gekommen war und die Hütte in Flammen stand.

Sie hatte selten an denHirsch zurückgedacht. Denn wenn sie an ihn dachte, kam ihr auch der Rest diesesschrecklichen Tages in den Sinn.

Aber an diesem Abendhatte sie sein Bild so scharf vor Augen, als stünde er abermals vor ihr. Maviehatte ihn damals nur mit großen Augen angesehen. Sie wunderte sich, wieso erihr damals nichts getan hatte. Er hätte sie angreifen können. Mit ihren sechsJahren war sie keine ernst zunehmende Gegnerin für diesen riesigen Hirschen mitseinem großen Geweih gewesen. Aber ganz egal, wie nahe sie an ihn herangetretenwar – er hatte sie nur angesehen mit diesem traurigen Blick. Und als sie nahegenug gewesen war, um ihn zu berühren, hatte er den Kopf gesenkt. Als würde ersich vor ihr verneigen. Sie hatte die Hand ausgestreckt und sein weiches Fellgestreichelt. Aus irgendeinem Grund war es unheimlich tröstlich gewesen. Aberdann war er auf einmal im Wald verschwunden.

Die Legende der Nachtigall 1 - Der Ruf des RabenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora