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Sieben Jahre später
 
Der Kutscher stand vor ihrem Haus bereit, die Pferde wieherten etwas aufgeregt.
Das Haus stand nicht leer, doch trotzdem wirkte es, als wäre es das, als Atsumu dort stand, über die Tasten des Klaviers strich, ab und zu eine hinunter drückte.
 
„Tsumu? Kommst du?", fragte Osamu.
Atsumu nickte, schloss das Instrument, folgte seinem Bruder nach draußen, wo seine Mutter gerade mit dem Kutscher sprach, über was auch immer, es interessierte ihn nicht, weswegen er sich direkt in die Kutsche setzte, die Arme vor der Brust verschränkte, stur aus dem Fenster sah.
Osamu setzte sich neben ihm, sah zu ihm. „Denkst du, ich bin begeistert davon?"
„Wieso müssen wir dann mit?"
„Was weiß ich."
 
Cho stieg ebenfalls ein, der Kutscher schloss die Tür.
Sie atmete erleichtert aus, sah zu ihren Söhnen, die sie beide genau gleich anstarrten.
„Also bitte, so schlimm wird es schon nicht werden."
 
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, noch im selben Moment holte Cho eine Tüte hervor, die sie Atsumu reichte. „Sag aber rechtzeitig Bescheid, wenn-"
 
Im selben Moment erbrach der ältere Zwilling in die Tüte, sein Bruder drehte sich weg.
 
„...dir schlecht wird", beendete sie ihren Satz.
 
Die Fahrt war der totale Horror für Atsumu. Immer wieder stieg die Übelkeit in ihm hoch, doch jedes Mal aufs Neue schaffte er es, sich noch einzukriegen, bevor es wieder geschehen konnte.
 
Als sie endlich bei der Burg ankamen, taumelte er zuerst etwas herum, bis er sein Gleichgewicht wiederfand. Osamu stützte ihn dabei, da Cho schon den Diener am Eingang begrüßte, der sie daraufhin bat, einzutreten.
Die Zwillinge folgten ihr schweigend, nachdem sie einen ernsten Blick ihrer Mutter zugeworfen bekommen hatten.
 
Und sobald sie im Innenraum ankamen, wurde Atsumu bewusst, wo das ganze Geld hin war, wenn es nicht im Dorf herumging – denn die Decke wurde von wundervollen Malereien geziert, an der Wand hingen teilweise mit Gold verzierte Büsten und Bilderrahmen. Der Raum war riesig, und beinahe konnte man meinen, dass er unendlich war – zumindest jemand, der es gewohnt war, auf einem der kleinen Grundstücke im Dorf zu leben.
 
Sie verbeugten sich höflich vor der Familie, die dort aufgestellt stand.
 
„Ich hoffe, ihr hattet eine gute Reise", sagte der König Nibori, der daraufhin einen Schritt auf sie zutrat.
„Danke, die hatten wir."
 
Atsumu musste sich ein Grinsen unterdrücken, als er an die Tatsache, dass die Fahrt schrecklich gewesen war, dachte.
 
Der Mann zeigte auf eine Frau, die eine ziemliche Lockenpracht besaß. „Darf ich vorstellen, meine Frau Misaki."
Misaki trat ebenfalls näher, hakte sich bei ihrem Mann ein, lächelte freundlich. An ihrem Hals war ganz klar die Markierung zu sehen, dennoch wirkte es, als würden die beiden nicht zusammen gehören – eigentlich nichts Neues, denn arrangierte Hochzeiten waren hier ja das Normalste auf der Welt.
Er zeigte auf drei weitere Personen, die sich eher im Hintergrund hielten, davon ein Mädchen, das leicht lächelte, und zwei Jungs, von denen einer streng geradeaus sah, während der andere den Boden anstarrte und irgendwie traurig wirkte – zumindest kam es Atsumu so vor, denn plötzlich fühlte er sich auch schlecht.
 
„Meine Tochter Amaya und meine Söhne Junichiro und Kiyoomi." Er sah zu seinen Kindern, dabei verfinsterte er seine Miene. „KIYOOMI!", schrie er, als er sah, wie sein Jüngster nur zu Boden blickte.
Kiyoomi schrak hoch, stellte sich gerade hin.
 
„Geht doch", murmelte Nibori, wandte sich dann wieder den Neuen zu. „Ihre Aufgabe kennen Sie: Sie kümmern sich um die Tiere, den Haushalt, erfüllen unsere Wünsche. Sie teilen sich Zimmer mit einer anderen Magd, ihre Söhne bekommen eines zusammen. Die Regeln kennen Sie?"
Cho nickte. „Ja, die kennen wir."
 
Nibori sah zwischen den Drei hin und her. „Gut, ich werde die Wichtigste noch einmal wiederholen: Absolut niemand der Angestellten darf mit uns Hausherren Kontakt aufnehmen, das heißt, es sollen keine Freundschaften entstehen. Dies hat den Grund, dass vor allem meine Söhne sich noch mitten in ihrer Entwicklung befinden, und diese sollte zu Ihrer eigenen Sicherheit nicht beeinflusst werden."
 
Atsumu sah hinüber zu dem Jüngsten, dessen Blick ihm zeigte, dass er sich hier abquälte, dass er hier weg wollte, und irgendwie machte er sich plötzlich Sorgen, obwohl er ihn doch gar nicht kannte, und so hörte er nicht, was der Vorgesetzte seiner Mutter noch weiteres sprach.
Vor allem nicht, als sein und Kiyoomis Blick sich trafen, sie sich in die Augen sahen, und wieder spürte Atsumu diese Wärme in sich, die er seit dem Tod seines Vaters immer gespürt hatte, wenn es ihm gerade schlecht gegangen war.
Er musterte ihn, seine schwarzen Locken, seine dunklen Augen und seinen ziemlich trainierten Körper – seinen Alpha-Geruch nahm er zwar wahr, doch er fühlte sich nicht unwohl, ganz im Gegenteil.
 
„Verstanden?!"
 
Er zuckte zusammen, als er bemerkte, dass nicht nur Kiyoomis Blick, sondern der von allen auf ihn gerichtet war.
„J-Ja", sagte er zittrig.
 
„Gut...", sagte Nibori, dann befahl er einem der Dienstmägde, dass sie den Neuankömmlingen die Zimmer zeigen sollte.
 
 
 
Eine Stunde später lag Atsumu in seinem Bett, genauer gesagt im unteren Bett des Stockbettes, das er sich mit seinem Bruder teilen musste.
Das Zimmer war komplett anders als der restliche Teil der Burg – im Gegensatz zu diesem war hier eindeutig bis aufs Nötigste gespart worden.
 
„Tsumu?"
„Hm?"
 
Osamu, der am oberen Bett lag, sah zu ihm herunter, legte den Kopf dabei auf den Händen ab. „Hast du Lust draußen irgendwas zu machen?"
Atsumu sah nun ebenfalls zu ihm. „Hast du den Garten für die Angestellten überhaupt schon gesehen?"
„Nein, du?"
 
Der Ältere nickte. „Der ist kleiner als ein Raucherhof, außerdem ist dort alles voller Unkraut und sieht aus, als wäre die Hälfte davon sogar schon abgestorben."
 
Osamu seufzte, legte sich wieder auf den Rücken. „Und was machen wir hier jetzt jahrelang?"
„Keine Ahnung. Aber die sind mir jetzt schon unsympathisch, ich meine, sieh dir nur an, was sie mit dem Geld, was wir alle gebrauchen könnten, anstellen. Ich meine, wer braucht eine Torte mit Goldstücken drauf?"
„Das sind die Reichen. Die wissen nicht, wie es uns im Dorf ergeht und es interessiert sie auch nicht."
 
Atsumu legte sich auf die Seite, starrte die dreckige Wand vor sich an. „Denkst du, die Welt wird sich je ändern?"
„Was meinst du damit?"
 
Der Blonde zögerte. „Naja, dass es vielleicht einmal egal ist, ob man Alpha, Omega, Beta, Reich, Arm, Alt, Jung, adelig oder nicht adelig ist... ich meine, du hast es zum Beispiel immer noch einfacher als ich, obwohl wir Zwillinge sind. Aber wenn man ein nicht adeliger Omega aus dem Dorf ohne Geld ist, ist man in der Gesellschaft auf einem zweitniedrigsten Stand. Ein nicht adeligen Alpha aus dem Dorf ohne Geld wird wenigstens noch akzeptiert."
 
Stille.
 
Osamu seufzte, dann kletterte er die Treppe hinunter, setzte sich zu seinem Bruder. „Ich weiß, dass du dich nicht akzeptierst, aber-"
Aber es ist nun mal so? Samu, ich will keinen Alpha heiraten, der mich nicht als Mensch akzeptiert, sondern nur als Ding, das für seine Bedürfnisse da zu sein hat und seine Kinder zur Welt bringen muss." Atsumu setzte sich auf, lehnte sich gegen die angrenzende Wand, als Osamu dasselbe tat. „Du hast wenigstens eine Wahl, wen du haben willst", fügte er leise hinzu. „Ich muss es so hinnehmen, wie es mich trifft."
 
Besorgt sah der Jüngere Zwilling zu ihm, lehnte sich gegen seine Schulter. „Vielleicht hast du Glück."
Vielleicht..."
 
 
 
 
In dieser Nacht konnte Atsumu nicht schlafen.
Er drehte sich von einer Seite auf die anderen, wieder zurück, legte das Kissen über den Kopf, dann wieder darunter, dann umarmte er es wieder, jammerte laut.
 
Sein Bruder schlief seelenruhig weiter – für gewöhnlich störte es ihn nicht einmal, wenn Atsumu vor Ärger losschreien würde, denn er hatte einen äußerst tiefen Schlaf, aus dem er nicht so leicht wach wurde, außer man versuchte es wirklich inständig.
In dieser Sache waren sie sich ähnlich, obwohl es bei Atsumu trotzdem noch länger dauerte, wenn er erst einmal richtig eingeschlafen war.
 
Er seufzte, stand möglichst leise auf, überprüfte, ob Osamu wirklich schlief, dann nahm er sich seine Jacke und Schuhe, schlich sich aus dem Zimmer, schloss beinahe lautlos die Tür.
 
Fast unhörbar tappte er den Flur entlang, bis er in der Küche ankam, dort durch die Tür in den kleinen Innenhof verschwand.
 
Etwas Schnee fiel vom Himmel, als er sich dort auf den Zaun setzte, hinauf sah. Die Luft, die er ausstieß, formte eine Wolke vor sich, so kühl war es, und zusätzlich blies der Wind auch noch.
Irgendwo in der Ferne war der Ruf einer Eule zu hören, dann nahm er das Zirpen von Grillen wahr.
Er seufzte, schloss die Augen, während er die Ruhe der Nacht genoss.
 
„Dürftest du überhaupt hier sein?", störte jemand die Stille.
 
Atsumu schrak auf, fiel dabei beinahe vom Zaun, konnte sich gerade noch halten.
 
Er drehte sich zu der Person, die hinter ihm aufgetaucht war. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sich sein Aussehen in sein Gedächtnis gebrannt, seine Mimik, seine Art, seine dunklen Locken, obwohl sie bis dahin noch kein einziges Wort miteinander ausgetauscht hatten – und das sollten sie ja auch den Regeln nach gar nicht tun.
 
„Dürftet Ihr es?", fragte er höflich.
 
Kiyoomi zog genervt die Augenbrauen zusammen. „Nein. Aber das ist mir egal", sagte er, setzte sich neben Atsumu. „Und ich hasse es, wenn man mich so anspricht."
 
Atsumu spürte eine wohlige Wärme in sich aufkommen, als Kiyoomi ihm so nahe kam, obwohl er gleichzeitig wusste, dass es falsch war – eigentlich hätte er weggehen müssen, doch er konnte es nicht, da ihm diese Nähe auf irgendeine Art und Weise gefiel und besser fühlen ließ.
 
„Soll ich Euch anders nennen?"
 
Er sah zu ihm, musterte die Gesichtshälfte, die er aufgrund des hellen Mondlichts erkennen konnte, dabei kam es ihm so vor, als würde sein Herz ein paar Takte schneller schlagen.
 
Kiyoomi sah nach oben, fing eine Schneeflocke mit der Hand, starrte sie an, bevor er zur Seite sah, seufzte, ließ die Flocke durch das zur Faust bilden seiner Hand verschwinden.
 
„Nein", antwortete er. „Vater wäre nur unnötig sauer, und du würdest auch Probleme kriegen."
 
Atsumu zog die Knie an den Körper, lehnte sich gegen die nahegelegene Säule, damit er nicht von dem breiten Zaun fiel. „Kriegen wir die nicht sowieso schon, wenn wir hier so miteinander reden?", fragte er, nahm sich eine der schneebedeckten Blumen neben sich, versuchte den Schnee davon abzuwischen.
 
Kiyoomi sah wieder runter. „Vielleicht. Keine Ahnung. Interessiert mich nicht."
 
Der Blonde spähte im Augenwinkel zu ihm, als er die Hände in die Jackentaschen steckte und auf die Wand, die sich zwei Meter von ihm entfernt befand, starrte.
 
„Ihr wirkt, als wärt Ihr nicht zufrieden. Ich meine, Ihr habt alles, was Ihr Euch erträumen könnt. Solltet Ihr da nicht glücklich sein?"
 
Kiyoomi sah sofort zu ihm, seine ernste, gleichgültige Miene hatte plötzlich etwas Trauriges an sich. „Nur wenn man alles hat, heißt das nicht, dass man Glücklich ist."
 
Atsumu sah auf die Blume in seiner Hand, bereute, die Frage gestellt zu haben. „Verzeihung...", sagte er.
„Was tut dir Leid?"
„Die Frage. Ich hätte sie nicht stellen dürfen. Verzeiht."
 
Der Dunkelhaarige schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Verzeih mir. Das kam vorwurfsvoll rüber", meinte er. Ein winziges Lächeln erschien auf seinen Lippen, bei dem Atsumu sofort merkte, dass es nur aufgesetzt und somit nicht echt war.
 
Eine lange Zeit blieb es still. Es war eine unangenehme Stille, die beide unterbrechen wollten, doch keiner von ihnen wusste, wie er dies am besten tun sollte.
 
„Die Welt ist so groß", sagte Kiyoomi da plötzlich. „Ich hätte sie gerne gesehen."
 
Atsumu sah wieder zu ihm. „Wieso seht Ihr sie Euch nicht an?"
Der Dunkelhaarige schien in Gedanken zu schwelgen. „Weil das nicht meine Aufgabe ist."
 
Der Omega rutschte etwas näher, legte den Kopf an den Knien ab. „Wen interessieren schon Aufgaben?", fragte er. „Ich meine, wir sind in verschiedene Schichten eingeteilt, in der es gefühlt Tausende Unterteilungen mit verschiedenen Aufgaben gibt", fügte er schnell hinzu, als er Kiyoomis verwirrte Mimik sah. „Im Dorf ist es so, dass ein Omega sich dem Alpha hingeben muss, der ihm zugeteilt wird, seine Kinder zur Welt bringen muss, keine Möglichkeit mehr hat, selbst zu entscheiden, was er tun will, vor allem wenn er zu denen gehört, die absolut kein Geld mehr haben..."
 
Kiyoomi betrachtete ihn schockiert. „Das geht dort ab?"
 
Atsumu sah ihm direkt in die dunklen Augen, spürte, wie sein Herz für einen Moment aussetzte, dann nickte er. „Wusstet Ihr das nicht? Ist das nicht hier genauso?"
 
Er hob die Schultern. „Ich hatte keine Ahnung..."
„Woher auch? Ihr lebt hier ein gutes Leben im Reichtum...", murmelte er schon beinahe.
 
Kiyoomi schluckte, sah wieder zur Seite, stand auf. „Ich sollte zurückgehen. Und du auch, es ist schon spät."
 
Atsumu wusste, dass er recht hatte, weshalb er sich ebenfalls erhob, dann aber seine Schritte beschleunigte und sich vor ihn stellte, ihm die Blume hin hielt.
 
„Was-"
„Ich hab unser Gespräch genossen. Nehmt sie bitte als Dankeschön an."
 
Etwas zögernd sah Kiyoomi von seinem Gegenüber, das etwas kleiner als er war, zu der Blume, dann griff er nach ihr, roch daran, lächelte etwas. „Darf ich fragen, wie dein Name ist?"
 
Der Blonde lächelte breit. „Atsumu."
 
Kiyoomi lächelte etwas breiter, gleichzeitig ziemlich schüchtern, und dieses Mal wusste Atsumu, dass dieses Lächeln echt war. „Schöner Name."
„D-Danke...", sagte er schnell, als ihm die Röte ins Gesicht stieg und er sich verlegen am Hals kratzte.
 
„Gute Nacht. Ich hoffe, du kannst jetzt besser schlafen."
„Ebenfalls." Atsumu ging in die entgegengesetzte Richtung, wollte gerade die Tür öffnen, als ihm etwas Seltsames auffiel.
 
„E-Entschuldigung?"
 
Kiyoomi drehte sich zu ihm. „Ja?"
 
„Woher wusstet Ihr, dass ich nicht schlafen konnte?"
 
Der Größere zog die Augenbrauen verwirrt zusammen, sah zu Boden, schien, nachzudenken. „Ich... weiß nicht. Ich hatte das so im Gefühl."
 
Atsumu nickte verstehend. „Verstehe", sagte er, dann lief er ins Warme, nahm sich noch ein Glas Wasser aus der Küche mit, bevor er sich wieder hinauf ins Zimmer schlich.

A Million Dreams - SakuAtsuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt